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Das System ändern

Unabhängige Gewerkschaften als Hoffnungsträger in Nordafrika

Von Isolda Agazzi, Genf (IPS) *

Gewerkschaften haben bei der Vertreibung der korrupten Machthaber in Tunesien und Ägypten eine Schlüsselrolle gespielt. In Bahrain und Algerien versuchen sie die Menschen zu ermutigen, sich von den Volksaufständen in den Nachbarländern inspirieren zu lassen. Über Mittel und Wege, die arabischen Staaten aus der Krise zu führen, diskutierten jetzt Teilnehmer einer internationalen Tagung in Genf.

In Tunesien stand der Arbeitnehmerverband UGTT im Kampf gegen Korruption und Arbeitslosigkeit an vorderster Front, wie Belgacem Afaya, Generalsekretär der Tunesischen Generalvereinigung für Gesundheit, auf der Veranstaltung von »Public Services International« (PSI) berichtete, einem Zusammenschluß internationaler Dienstleistungsgewerkschaften. UGTT ist der Dachverband der tunesischen Arbeitnehmerorganisationen. Er hatte im Januar zusammen mit Richtern, Rechtsanwälten, Studenten und Cyberaktivisten entscheidend dazu beigetragen, die Massen gegen Ben Ali zu mobilisieren.

Der PSI-Beauftragte für die arabischen Staaten, Ghassan Slaiby, wies darauf hin, daß in der arabischen Welt die meisten Gewerkschaften unter staatlicher Kontrolle stehen. Und von ihnen seien es zwei gewesen, die die Jasminrevolutionen unterstützt hätten: die UGTT in Tunesien und eine Gewerkschaft in Bahrain, die derzeit Zielscheibe staatlicher Repressionen ist.

In Ägypten kam es bereits vor dem Rücktritt des Präsidenten Hosni Mubarak zur Gründung zweier unabhängiger Gewerkschaften. Sie waren jedoch gezwungen, im Untergrund zu agieren. Später schlossen sie sich der Pro-Demokratie-Bewegung an. Nach dem Sturz Mubaraks wurden sie als legale Arbeitnehmerverbände anerkannt.

Doch wie Afaya betonte, ist es eine Sache, eine Regierung zu stürzen, und eine andere, das Land wirtschaftlich zu stabilisieren. Die Arbeitslosigkeit sei hoch, die Kaufkraft gering. Zum Glück sei der tunesische Staat in der Lage, die Staatsbediensteten bis Juli zu bezahlen.

Der Gewerkschafter fürchtet, daß die tunesische Schuldenlast, deren Tilgung 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschlinge, die Regierung verleiten könnte, noch mehr Schulden aufzunehmen. Seiner Meinung nach sollte sie lieber versuchen, die Gelder zurückzuholen, die sich Ben Ali und sein Clan illegal unter den Nagel gerissen hätten.

Afaya betonte ferner die Notwendigkeit, für soziale und steuerliche Gerechtigkeit zu sorgen, die Schieflage zwischen einzelnen Regionen zu beheben, den öffentlichen Dienst auf Vordermann zu bringen und den Tunesiern den kostenfreien Zugang zum Gesundheitswesen zu ermöglichen. Er kündigte Gespräche mit der Regierung über die Einrichtung neuer Arbeitsplätze an. Es gelte dafür zu sorgen, den Beschäftigten feste und versicherungspflichtige Jobs zu besorgen, die angemessen bezahlt würden.

Obwohl Algerien in einer schweren sozioökonomischen Krise steckt, ist das Land nach Ansicht von Nassira Ghozlane, Generalsekretärin des Nationalen Verbands der Staatsbediensteten (SNAPAP), noch nicht zu einer Revolution wie in den Nachbarländern bereit. Die Menschen hätten Angst vor den Konsequenzen. Ghozlane hält die von der Regierung angekündigten Reformen für unzureichend. Das Land werde vom Militär regiert, gab sie zu bedenken. »Das ganze System muß abgeschafft werden – und nicht nur Präsident Abdelaziz Bouteflika.«

Sie kritisierte vor allem die Privatisierungspolitik ihres Landes, die zur Schließung Tausender Staatsbetriebe geführt habe. Bis heute gehe der Ausverkauf von Wasser, Öl und Gas an ausländische Unternehmen weiter. »Die Löhne haben einen historischen Tiefstand erreicht, und Millionen Algerier müssen mit einem prekären Einkommen von 25 Euro monatlich klarkommen. Ärzte in den algerischen Notaufnahmen verdienen zwischen 40 bis 90 Euro.«

Auf die Frage, wie sich die Staaten künftig finanzieren sollen, antwortete Ghozlane: »Aus Steuergeldern.« Auch empfahl sie den arabischen Staaten die gravierenden Einkommensunterschiede in den jeweiligen Ländern auszugleichen und die öffentlichen Gelder gerechter zu verteilen. »Die weltweite Finanzkrise«, so die Gewerkschaftsführerin, »offenbart den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit«.

* Aus: junge Welt, 31. Mai 2011


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