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Keine "Pause für den Frieden"

In das interessante Waffenstillstandsangebot von Hamas platzt die israelische Militäroffensive - Die Hamas-Erklärung "Eine Pause für den Frieden" (Pause for Peace) im Wortlaut

Eine der Tragödien im Nahen Osten besteht zweifellos darin, dass immer dann, wenn neue Hoffnung auf eine Beruhigung des israelisch-palästinensischen Konflikts aufkeimt, neue Gewalttaten geschehen. Das können Selbstmordattentate sein, die prompt durch großangelegt Militärmaßnahmen von Seiten Israels "beantwortet" werden, oder es sind solche israelischen Militärmaßnahmen selbst, die den Konflikt wieder anheizen.
Am 1. November 2006 erschien in der New York Times ein Vorschlag von Hamas zu einem umfassenden Waffenstillstand (eine sog. "hudna"). Am selben Tag rückten israelische Heereseinheiten, Panzer und Kampfhubschrauber gegen die Stadt Beit Hanun im nördlichen Gazastreifen vor. Dabei wurden sieben Palästinenser und ein Soldat getötet, 33 Menschen wurden verletzt, darunter eine Frau und ein elfjähriger Junge. Die Militäraktion war eine der größten seit der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit Ende Juni. Israel gab als Grund für den Angriff an, dass aus Beit Hanun ständig Raketen auf israelisches Gebiet abgefeuert werden. Am 1. November sei ein Bewohner der Stadt Sderot leicht verletzt worden.
Aus der israelischen Militäraktion am 1. November wurde eine Offensive, die bis zum heutigen Tag (5. November) anhält und bis dahin 48 Palästinensern den Tod brachte, darunter Frauen und Kinder. Beit Hanun wurde umzingelt, zahlreiche Männer aus der Stadt verhaftet und nach Israel verschleppt. Israelische Kampfflugzeuge beschossen auch Ziele in Gaza-Stadt und anderen Ortschaften.
UN-Generalsekretär Kofi Annan äußerte sich am 3. November "zutiefst besorgt" über den Anstieg der Gewalt und die zivilen Opfer der israelischen Offensive im nördlichen Gazastreifen. Annan rief Israel auf, "größte Zurückhaltung zu üben, sein Bestes zum Schutz von Zivilisten zu tun und zu vermeiden, in einer bereits schlimmen Lage eine Eskalation zu provozieren".
Wieder scheint eine Gelegenheit zur Deeskalation im Nahost-Konflikt verpasst zu werden. Der Artikel in der New York, verfasst vom Chefberater des palästinensischen Premierministers Hanija und damit eine höchste regierungsamtliche Erklärung, enthielt ein interessantes Angebot an Israel, das zeigt, dass Hamas bereit ist, über realistische Wege zu einer Beruhigung der Lage nachzudenken und akzeptable Angebote zu machen. Die Erklärung, obwohl durch die israelische Gewalteskalation vorübergehend in den Hintergrund gedrängt, sollte auf dem Tisch bleiben. Es gibt zu wenige Chancen für einen Frieden im Nahen Osten. Dies ist vielleicht eine.
Pst

Wir dokumentieren im Folgenden die Erklärung in einer von uns selbst besorgten Übersetzung sowie im englischen Original.



Eine Pause für den Frieden

Von Ahmed Yousef *

Bei uns in Gaza träumen Wenige vom Frieden. Zur Zeit wagen die meisten nur von der Abwesenheit des Krieges zu träumen. Aus diesem Grund schlägt Hamas einen langfristigen Waffenstillstand vor, während dessen die Völker Israels und Palästinas versuchen können über einen dauerhaften Frieden zu verhandeln.

Ein Waffenstillstand wird im Arabischen als "hudna" bezeichnet. Eine "hudna", die normalerweise für einen Zeitraum von zehn Jahren gilt, wird im islamischen Recht als legitimer und bindender Vertrag anerkannt. Eine Hudna geht über das westliche Konzept einer Waffenruhe hinaus und verpflichtet die Parteien, während dieser Zeit nach einer dauerhaften, gewaltlosen Lösung ihrer Differenzen zu suchen. Der Koran misst Bemühungen, zu einer Verständigung zwischen verschiedenen Völkern zu kommen, eine große Bedeutung bei. Während der Krieg die Feinde entmenschlicht und das Töten erleichtert, eröffnet eine hudna die Chance, im jeweiligen Gegner den Menschen zu sehen und seine Position zu verstehen; mit dem Ziel ihre inneren oder internationalen Streitigkeiten zu lösen.

Ein solches Konzept – eine Periode des Nicht-Kriegs und der nur partiellen Lösung eines Konflikts – ist dem Westen fremd und wurde mit großer Skepsis aufgenommen. Viele Menschen des Westens, mit denen ich spreche, können sich nicht vorstellen, wie man die Gewalt beenden kann, ohne gleichzeitig den Konflikt zu beenden.

Ich möchte indessen behaupten, dass dieses Konzept gar nicht so fremd ist wie es scheint. Schließlich hat die Irisch Republikanische Armee zugestimmt, ihren bewaffneten Kampf zur Befreiung Nordirlands aus britischer Vorherrschaft aufzugeben, ohne die britische Souveränität anzuerkennen. Irische Republikaner streben weiterhin nach einem vereinten Irland, frei von britischer Vorherrschaft, aber dieser Kampf beruht auf friedlichen Methoden. Wäre die IRA gezwungen worden, ihre Vision einer vereinigten Irland aufzugeben, bevor es zu Verhandlungen kam, hätte sich der Frieden nie durchsetzen könne. Warum sollte man von den Palästinensern mehr verlangen, vor allem da der Geist unseres Volkes das nie zulassen würde.

Wenn Hamas sein Wort zu einer internationalen Vereinbarung gibt, geschieht das im Namen Gottes; daher hält Hamas Wort. Hamas hat die vorhergehenden Waffenstillstände eingehalten, was die Israelis nur widerwillig mit den sattsam bekannten Worten quittierten: "Hamas meint doch wenigstens, was es sagt."

Dieses Waffenstillstandsangebot ist keine List, wie manche behaupten, um unseren Militärapparat zu stärken oder um Zeit zu gewinnen, um unsere Organisation zu verbessern oder die Gewalt über die Palästinensische Verwaltung zu konsolidieren. Tatsächlich haben glaubensgestützte politische Bewegungen in Algerien, Ägypten, Irak, Jordanien, Kuwait, Malaysia, Marokko, Türkei und Jemen hudna-ähnliche Strategien verfolgt, um eine Ausweitung von Konflikten zu vermeiden. Hamas wird sich klug und ehrenhaft ebenso verhalten.

Wir Palästinenser sind bereit zu einem Waffenstillstand, der zu einem sofortigen Ende der Okkupation führt und eine Periode der friedlichen Koexistenz einleitet, in der sich beide Seiten jeder Form militärischer Aggression oder Provokation enthalten. Sollten die Verhandlungen zur Erzielung eines dauerhaften Abkommens scheitern, wird die nächste Generation von Palästinensern und Israelis entscheiden, ob sie die Hudna und die Suche nach einem Verhandlungsfrieden erneuert oder nicht.

Eine umfassende Lösung des Konflikts kann es weder heute, noch in einer Woche, in einem Monat oder auch nur in einem Jahr geben. Ein Konflikt, der so lange schwärte, mag allenfalls in einer Dekade friedlicher Koexistenz und Verhandlungen gelöst werden. Das ist die einzige sichtbare Alternative zur gegenwärtigen Situation. Eine hudna wird zu einem Ende der Besatzung führen und Raum und Ruhe schaffen, die nötig sind, um alle anstehenden Probleme zu lösen.

Wenige in Gaza träumen. Für die meisten war es in den vergangenen sechs Monaten sogar schwierig, überhaupt zu schlafen. Aber die Hoffnung ist nicht tot. Und wenn wir zu hoffen wagen, dann sehen wir dies: einen zehnjährigen Waffenstillstand, während dessen, Inschallah (so Gott will), wir wieder lernen vom Frieden zu träumen.

* Ahmed Yousef ist der Chefberater des Palästinensischen Premierministers Ismail Hanija

Anmerkung:
Der englische Text dieser Erklärung wurde auf der Nahostkonferenz von Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag am 4. November in Berlin von einem Vertreter der palästinensichen Delegation verlesen. Einem offiziellen Hamas-Vertreter war die Einreise durch das deutsche Außenministerium verweigert worden.


Pause for Peace

By AHMED YOUSEF

Gaza

HERE in Gaza, few dream of peace. For now, most dare only to dream of a lack of war. It is for this reason that Hamas proposes a long-term truce during which the Israeli and Palestinian peoples can try to negotiate a lasting peace.

A truce is referred to in Arabic as a “hudna.” Typically covering 10 years, a hudna is recognized in Islamic jurisprudence as a legitimate and binding contract. A hudna extends beyond the Western concept of a cease-fire and obliges the parties to use the period to seek a permanent, nonviolent resolution to their differences. The Koran finds great merit in such efforts at promoting understanding among different people. Whereas war dehumanizes the enemy and makes it easier to kill, a hudna affords the opportunity to humanize one’s opponents and understand their position with the goal of resolving the intertribal or international dispute.

Such a concept — a period of nonwar but only partial resolution of a conflict — is foreign to the West and has been greeted with much suspicion. Many Westerners I speak to wonder how one can stop the violence without ending the conflict.

I would argue, however, that this concept is not as foreign as it might seem. After all, the Irish Republican Army agreed to halt its military struggle to free Northern Ireland from British rule without recognizing British sovereignty. Irish Republicans continue to aspire to a united Ireland free of British rule, but rely upon peaceful methods. Had the I.R.A. been forced to renounce its vision of reuniting Ireland before negotiations could occur, peace would never have prevailed. Why should more be demanded of the Palestinians, particularly when the spirit of our people will never permit it?

When Hamas gives its word to an international agreement, it does so in the name of God and will therefore keep its word. Hamas has honored its previous cease-fires, as Israelis grudgingly note with the oft-heard words, “At least with Hamas they mean what they say.”

This offer of hudna is no ruse, as some assert, to strengthen our military machine, to buy time to organize better or to consolidate our hold on the Palestinian Authority. Indeed, faith-based political movements in Algeria, Egypt, Iraq, Jordan, Kuwait, Malaysia, Morocco, Turkey and Yemen have used hudna-like strategies to avoid expanding conflict. Hamas will conduct itself just as wisely and honorably.

We Palestinians are prepared to enter into a hudna to bring about an immediate end to the occupation and to initiate a period of peaceful coexistence during which both sides would refrain from any form of military aggression or provocation. During this period of calm and negotiation we can address the important issues like the right of return and the release of prisoners. If the negotiations fail to achieve a durable settlement, the next generation of Palestinians and Israelis will have to decide whether or not to renew the hudna and the search for a negotiated peace.

There can be no comprehensive solution of the conflict today, this week, this month, or even this year. A conflict that has festered for so long may, however, be resolved through a decade of peaceful coexistence and negotiations. This is the only sensible alternative to the current situation. A hudna will lead to an end to the occupation and create the space and the calm necessary to resolve all outstanding issues.

Few in Gaza dream. For most of the past six months it’s been difficult to even sleep. Yet hope is not dead. And when we dare to hope, this is what we see: a 10-year hudna during which, inshallah (God willing), we will learn again to dream of peace.

Ahmed Yousef is a senior adviser to the Palestinian prime minister, Ismail Haniya.

New York Times, November 1, 2006
Heral Tribune, November 2, 2006



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