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Der Staat, von dem Scharon spricht / The State Sharon Is Talking About

Von Amira Hass / By Amira Hass

Die Autorin des nachfolgenden Beitrags (er erschien in der israelischen Zeitung Haaretz am 28. Mai 2003) gehört zu den mutigsten und brillantesten Journalistinnen des Nahen Ostens. Als jüdische Redakteurin der israelischen Zeitung Haaretz lebt und arbeitet sie auf dem Geiet der Palästinensischen Autonomiebehörde. Von dort berichtet sie über den israelisch-palästinensischen Konflikt, wie er sich ihr darstellt. Vor kurzem ist sie mit dem Demokratiepreis der angesehenen "Blätter für deutsche und internationale Politik" ausgezeichnet worden. Nachfolgenden Beitrag dokumentieren wir im englischen Original und in einer deutschen Übersetzung von Claudia Müller. Beide Versionen sind auf den Internetseiten von ZNet erschienen (www.zmag.de bzw. www.zmag.org


Gespräche und Behauptungen machen größeren Eindruck als Tatsachen und Geschehnisse, die sich tatsächlich auf dem Boden abspielen. Dies kann wieder einmal gesehen werden an den widersprüchlichen - den aufgebrachten oder zustimmenden - Reaktionen bei Verabschiedung der so genannten "Road Map" [Friedensplan, vorgelegt von den USA, den Vereinten Nationen (UNO), der Europäischen Union (EU) und Russland] und den Äußerungen Ariel Scharons, während einer Feuerpause, dass es falsch sei über 3,5 Millionen Palästinenser zu herrschen, dass eine Besatzung nicht gut sei und es keine Alternative gäbe, als sich mit der Errichtung eines Palästinenserstaates einverstanden zu erklären.

Die ‚Tatsachen' über das Land, die weniger beeindrucken sind als die Rhetorik, schafft Israel täglich aufs Neue. Diese ‚Tatsachen' sind: die Trennungs- und Sicherheitszäune um Siedlungen, die Sicherheits- und Zugangsstraßen, die kontinuierlich palästinensische Dörfer voneinander und von ihren Ländereien trennen und der Siedlungsausbau, der bereits während der ‚Oslo-Ära' so weit expandiert war, dass er ungefähr die Hälfte des gesamten Westjordanlandes einnahm.

Folgende Tatsachen sind das Entscheidende und werden es bleiben: das Gebiet auf dem die "Road Map" umgesetzt werden wird und das Gebiet auf dem der so genannte "Palästinensische Staat" errichtet werden soll.

Ein Besuch in der Gegend, in der die Kommission für Öffentlichkeitsarbeit, das Verteidigungsministerium, das Bauministerium und die Bulldozer des israelischen Verteidigungsministeriums an der Arbeit sind, macht klar, warum es für Premierminister Ariel Scharon leicht ist, über einen "Palästinensischen Staat" zu sprechen.

Ein Beratungsausschuss der Palästinenserverwaltung hat eine futuristische Karte erstellt, die auf jenen ‚Tatsachen' basiert. Der Ausschuss wird diese Karte all den Botschaftern und Abgesandten überreichen, die sich so enthusiastisch über Scharons "Staat" äußern.

Gemäß Scharons Plänen, wird der so genannte "Staat" aus drei voneinander getrennten Enklaven und Gaza bestehen, ohne Garantien darüber, dass die jüdischen Siedlungen innerhalb des Staatsgebildes abgebaut werden. Der "Trennungszaun" wurde zunächst nur als "temporär" deklariert, aber er besteht aus einem massiver Schutzwall, der viel Land vereinnahmt und bereits das Gebiet um Tulkarm und Qalqiliya - dem fruchtbarsten palästinensischen Ackerland - verunstaltet und somit einen der wichtigsten Eckpfeiler der palästinensischen Wirtschaft zerstört.

Der massive Ausbau jüdischer Siedlungen in Jerusalem und dessen Umgebung, zwischen Bethlehem und Ramallah und zwischen dem Toten Meer und Modi'in, verhindert jegliche Weiterentwicklung der Städte, ihrer Wirtschaft und Kultur - vor allem in Ostjerusalem. Die südliche Enklave zwischen Hebron und Bethlehem, wird von der zentralen Enklave um Ramallah, durch unzählige "gehegte und gepflegte" israelische Siedlungen, Tunnelstraßen und Autobahnen, getrennt werden. Die nördliche Enklave zwischen Jenin und Nablus wird vom Inneren des Westjordanlandes durch massive Siedlungsblocks wie Ariel-Eli-Shiloh getrennt.

Wahrscheinlich wird auch Scharons Absicht, einen Trennungszaun im Osten zu errichten, bald verwirklicht werden - denn sein Reden über einen "Staat" klingt in amerikanischen Ohren überzeugender, als jene Version, eines Israels, das weiterhin palästinensisches Land enteignet. Das Jordantal wird außerhalb des Palästinensischen Staates liegen und zwischen ihm und dem geteilten "Staat" werden jüdische Siedlungen mit niederer Bevölkerungszahl und enormen Landreserven wie Itamar, Nokdim und Tekoah und massive Siedlungen wie Ma'aleh Adumim entstehen.

Letzten Freitag veröffentlichte die Wochenendausgabe der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth einen interessanten Beitrag für all jene, die niemals die Gebiete betreten [Anmerkung der Übersetzerin: In Israel spricht man nicht von "besetzten Gebieten", sondern nur von "Gebieten"], der die Langzeitbedeutung des Trennungszaunes im Detail erläuterte, inklusive einer Landkarte, die eine auffallende Ähnlichkeit, mit der Landkarte aufweist, die von den Palästinensern [für die Botschafter] erstellt wurde.

Es existieren viele Berichte darüber, wie Zehntausende Dorfbewohner von ihren Ländereien abgeschnitten wurden, Dorfbewohner zwischen beiden Seiten der Zäune wie Gefangene leben und man Qualqiliya völlig isolierte. Es existieren auch Berichte über den Trennungszaun, der auf Wunsch der Siedler, in Richtung Osten ausgebaut wurde. Aber der Berichterstatter von Yedioth, Meron Rapaport, geht noch einen Schritt weiter, indem er Schlüsselpersonen in den Siedlungen nach "Tatsachen" befragt.

Gemäß den Aufzeichnungen von Ariel Mayor Ron Nahman, kannte er die Landkarte der palästinensischen Enkaven innerhalb des Zaunes schon länger: "Es handelt sich um die selbe Landkarte, die ich jedes Mal sah, wenn ich Arik [Spitzname von Ariel Scharon] seit 1978 besuchte. Er erzählte mir, dass er hierüber schon seit 1973 nachdenkt."

Ein Siedler aus Einav, der von sich selbst behauptet "sehr rechts" zu sein, sieht den Zaun als eine Katastrophe. "Er bedeutet für die Palästinenser einen wirtschaftlichen Todesstoß" erklärt Shmil Eldad Rapaport. "Es gibt Menschen, die hier einfach leben möchten, aber das schafft neuen Hass."

Moshe Immanuel von Salit rechtfertigt den Zaun wie folgt: "Die Palästinenser haben 1948 und 1967 verloren und sie werden auch dieses Mal verlieren … diejenigen, die den Krieg verlieren, sind diejenigen die auch verlieren."

David Levy, Vorsitzender des Regionalrates im Jordantal weiß, dass der Zaun die "Gebiete" im Innern Israels halten wird. Er weiß es, aufgrund von Treffen mit Scharon und aufgrund von Landkarten, die er ihm gezeigt hat.

Die Palästinenser sind erschöpft von dem ungleichen Kampf mit Israel, einer weltklasse Militärmacht. Wahrscheinlich werden sie sich entscheiden, da keinerlei Alternative in Aussicht steht, einen Bantustan-Staat, der weitere Hunderttausende Flüchtlinge aufnehmen wird, zu akzeptieren. Die abgeschlossenen Camps werden Armut und wirtschaftliche Not erzeugen, ohne Raum für weitere Entwicklungen. Ob ihre Kinder sich dazu entschließen werden, in "Frieden" innerhalb erstickender Enklaven zu leben, das ist eine völlig andere Frage.

Übersetzt von: Claudia Müller

Ha'aretz / ZNet 28.05.2003 (www.zmag.de)



The State Sharon Is Talking About

by Amira Hass


Talk and declarations have more influence than facts and actions on the ground. This can be seen once again in the contradictory reactions - furious or welcoming - to the government's approval of the road map and to the fire-breathing statements by Ariel Sharon that it's wrong to rule over 3.5 million Palestinians, that occupation is not good, that there's no alternative but to agree to the establishment of a Palestinian state.

The facts on the ground, which don't create as strong an impression as the rhetoric, are established every day. The facts are called the separation fence and security fences around settlements, security roads and bypass roads that continue to cut off the Palestinian villages from each other and the villages from their land, and construction in the settlements that were already vastly expanded during the Oslo era to the point where they constitute about half the total area of the West Bank.

These facts are determining - and will continue to determine - the area where the road map will be applied, the area where the entity known as the "Palestinian state" will be established. A visit to the area, where the Public Works Commission, the Defense Ministry, Housing Ministry and the IDF bulldozers are busy at work, makes it possible to see why it's easy for Prime Minister Ariel Sharon to talk about a "Palestinian state."

A consulting team from the Palestinian negotiations department has drawn up a future map, based on these facts on the ground. The team will give it to the ambassadors and envoys who are so enthusiastic about Sharon's statements.

According to the facts on the ground, the "state" will apparently be comprised of three enclaves cut off from one another inside the West Bank - in addition to the Gazan enclave, and with no guarantee the settlements inside the enclave will be dismantled. The "separation fence" has been described as "temporary," but it is a wall with hefty fortifications taking up a lot of land, and it has already scarred the Tul Karm-Qalqiliyah area, the most prosperous Palestinian farmland, thus sabotaging one of the cornerstones of Palestinian economic security.

The massive construction in Jerusalem and its environs, from Bethlehem to Ramallah, and the Dead Sea to Modi'in, has already ruled out any Palestinian urban, industrial or cultural development worthy of the name in the area of East Jerusalem. The southern enclave of the West Bank, from Hebron to Bethlehem, will be cut off from the central enclave of the Ramallah area by an ocean of manicured Israeli settlements, tunnel roads and highways. The northern enclave, from Jenin to Nablus, will be cut off from the center by the massive settlement bloc of Ariel-Eli-Shiloh.

Presumably Sharon's intentions for an eastern separation fence will also come into being - after all, his talk about a state is more persuasive to the American administration than the land Israel continues to effectively expropriate from the Palestinians. The Jordan Valley will remain outside the Palestinian state, and between it and the divided Palestinian "state" there will be settlements with tiny populations and enormous land reserves, like Itamar, Nokdim and Tekoah, as well as huge settlements like Ma'aleh Adumim.

Last Friday, Yedioth Ahronoth's weekend magazine published a useful report for all those who never go to the territories, detailing the long-term significance of the separation fence, accompanied by a map that bears a striking resemblance to the map prepared by the Palestinians.

There have already been many reports about how tens of thousands of villagers have been cut off from their lands, how some villages have been imprisoned between the two sides of the "fence," and how Qalqiliyah has been cut off entirely. There have also been reports about how the separation fence is constantly being moved eastward, by settler demand. But the Yedioth reporter, Meron Rapaport, went a step further, asking key people in the settlements about those facts.

According to the quotes from Ariel Mayor Ron Nahman, he has already seen the map of Palestinian enclaves being created by the fence: "That's the same map I've seen every time I've visited Arik [Sharon] since 1978. He told me he's been thinking about it since 1973."

A settler from Einav, referring to himself as "very right-wing," regards the fence as a disaster: "It's an economic death sentence for the Palestinians," Shmil Eldad told Rapaport. "There are people here who want to make a living and it's creating more hatred," he added.

But Moshe Immanuel from Salit justifies the fence: "The Palestinians lost in 1948 and 1967 and they will lose this time, too ... That's what happens, those who lose in war, lose."

David Levy, head of the Jordan Valley Regional Council, knows the fence will keep the area "inside," meaning inside Israel. He says he knows, on the basis of meetings with Sharon and maps Sharon has shown him.

The Palestinians are exhausted by the unequal struggle with Israel, which is a world-class military power. Maybe that's why, lacking any alternative, they might decide to accept the Bantustan state that is meant to absorb hundreds of thousands of refugees. The "closure camps" will nurture poverty and economic distress, without any room for development. Whether their children agree to continue living in "peace" in suffocating enclaves, is another question entirely.

Ha'aretz; May 28, 2003
ZNet | Mideast (www.zmag.org)



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