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Vorkriegszeit in Nahost?

Hintergründe der Gewaltwelle nach dem Massaker auf dem Tempelberg. Von Jochen Hippler

(Der homepage von Jochen Hippler haben wir nachfolgende Analyse der neuerlichen Gewaltausbrüche im Nahen Osten entnommen. Sie war im Oktober in der Wochenzeitung "Freitag" veröffentlicht worden.)

Wie kommt es zu den Gewaltausbrüchen in Palästina und Israel, nach all den Vereinbarungen, Verhandlungen, Friedensgesprächen und Nobelpreisen an Arafat, Peres und Rabin? Wie kann es geschehen, daß der Nahe Osten erneut in eine Vorkriegssituation taumelt, wo doch die ganze Welt - und auch die Israelis und Palästinenser - die Nase von der chronischen Gewalt mehr als voll haben? Liegt es tatsächlich daran, daß Arafat "die Kontrolle über die Palästinenser verloren" hat, oder daß der israelische Oppositionsführer Scharon die Gewalt provoziert? Liegt es an der innenpolitischen Schwäche Ministerpräsident Baraks und seinem immer stärkeren Hin-und-her pendeln in der Friedensfrage? So berechtigt einzelne dieser Fragen sein mögen - entscheidend sind sie nicht. Sie machen aus der Tragödie des Nahen Ostens leicht eine Seifenoper der konkurrierenden Persönlichkeiten, der Verschwörungen, bösen Absichten oder menschlichen Schwächen. Aber so sehr es auch in dieser Region von politischen Finsterlingen wimmelt, die auf dem Feuer des Konfliktes ihre eigenen Süppchen kochen möchten, so wenig reicht dieser Hinweis aus, die verfahrene Situation zu erklären. Aber warum dann die Krise, warum das Umkippen der fragilen Friedenschance in die Gewalt?

Die gewaltsame Konfrontation ist nicht nur der Gegenpol der Verhandlungen, sondern zugleich ihr Ausdruck. Was wir uns immer gern als "Friedensprozeß" vorstellen, ist im Kern etwas anderes: ein diplomatischer Handel zweier politischer Eliten, die durch wechselseitige Vereinbarungen ihre jeweiligen Interessen verfolgen. Yassir Arafat brauchte den Verhandlungsprozeß, um aus dem tunesischen Exil nach Palästina zurückkehren zu können und sich auf die politische Bühne zurückzukämpfen, als er nach Intifada und Golfkrieg eigentlich schon erledigt war. Daß die palästinensische Gesellschaft endlich und dringend Frieden braucht, um sich wirtschaftlich, sozial und politisch weiterentwickeln zu können, ändert daran nichts, sondern gibt Arafats Politik nur den Rahmen. Wer sich aber die Politik des alten Haudegens und Präsidenten in Palästina näher anschaut, kann die Augen nicht davor verschließen, daß Arafat und sein engerer Kreis das Wohl der eigenen Gesellschaft regelmäßig mit dem eigenen verwechseln. Korruption und Menschenrechtsverletzungen nach innen flankieren die Verhandlungspolitik nach außen. Beides zielt in erster Linie auf die Machtsicherung der Person und des Regimes.

Aus israelischer Sicht stellt sich der Friedensprozeß anders dar: das Palästinaproblem war vor allem die Frage der Landnahme, um die Grenzen von den engen Linien des UNO-Teilungsplans bis zum Jordan hinauszuschieben. Die Erfahrungen von Intifada und der Besetzung des südlichen Libanon haben demonstriert, daß die tatsächliche und völlige Integration der Westbank zu akzeptablen Bedingungen und Kosten unrealistisch ist - und damit die Notwendigkeit einer neuen Linie erwiesen. Das israelische Staatsinteresse erfordert eine Befriedung der Westbank (und des Gaza-Streifens), bei und zur Sicherung der eigenen Dominanz. Ein palästinensischer Autonomiebereich oder sogar Rumpfstaat wird damit zur denkbaren Option, solange er nicht gleichberechtigt Israel gegenübersteht, sondern die ihm zugewiesene Aufgabe der Sicherheitsgewährleistung und Kontrolle erfüllt. Innenpolitisch sehr umstritten bleiben dabei die genaue Ausgestaltung und das Maß an Zuständigkeit und territorialer Ausdehnung der palästinensischen Einheit, nicht das Prinzip. Überspitzt formuliert ließe sich feststellen, daß diese Strategie darauf zielt, die palästinensische Führung als Sicherheitsagentur gegen die Palästinenser zu nutzen. Die ständigen Wunschlisten, welche Islamisten die palästinensischen Sicherheitsbehörden zu verhaften haben, illustrieren diesen Punkt. Diese Option, einen palästinensischen Kleinstaat als israelisches Protektorat zu organisieren, stellt die mögliche Kompromißlinie zwischen Arafat und der israelischen Regierung dar - erscheint der Mehrheit der palästinensischen Gesellschaft aber als Selbstaufgabe, und muß deshalb von Arafat auch gegen die eigene Bevölkerung durchgesetzt werden, trotz aller vorhandenen Friedenssehnsucht.

Das Problem bestand und besteht darin, daß die Erfordernisse eines Friedens - nämlich u.a. die Versöhnung der beiden verfeindeten Gesellschaften - nie Bestandteil des Prozesses war oder sein konnte. Versöhnung setzt - siehe Deutschland und Frankreich oder Israel, mit Einschränkungen Deutschland und Polen - zumindest eine prinzipielle Gleichheit voraus. Israel und die fragmentierte und ökonomisch allein nicht lebensfähige palästinensische Gesellschaft sind aber von "gleicher Augenhöhe" weit entfernt, die Machtverhältnisse entsprechen halbkolonialen Beziehungen. Einer Besatzungsmacht kann man sich unterordnen, man kann sie bekämpfen, aber versöhnen kann man sich erst nach Ende der Besatzung. Eine Politik und ein Verhandlungsprozeß, die nicht auf das Ende der kolonialen Machtverhältnisse, sondern auf deren konfliktvermindertes Management zielen, mögen in gewissen Grenzen praktikabel sein. Sie mögen die einzige Option darstellen, die verkrustete Situation überhaupt aufzulockern - aber eine Versöhnung bedeuten sie nicht. Sie tragen deshalb auch kaum zur Lösung des Problems bei, sparen die Konfliktursachen aus, nämlich die Herrschaft des einen über den anderen.

Der Verhandlungsprozeß und die personalisierte, autoritäre Herrschaft des Regimes Arafat haben in Palästina weder zu wirtschaftlicher Entwicklung, noch zu Demokratie oder Frieden geführt. Sie haben die palästinensische Gesellschaft demoralisiert. Sie löst sich auf und beginnt, sich gegen sich selbst zu wenden. Weder die Behörden noch die Opposition oder Teile der Bevölkerung glauben noch an irgendeine politische Strategie aus der ausweglosen Lage: zwar braucht man verzweifelt den Frieden, niemand glaubt aber mehr, ihn anders als in einem israelisch kontrollierten Bantustan verwirklichen zu können. Die Unterwerfung bietet keine Lösung, auch der Aufstand oder das Durchwursteln sind hoffnungslos. Die palästinensische Gesellschaft ist demoralisiert, ohne Perspektive oder Hoffnung. Nur noch in der Rebellion gegen die Besatzer und Verhandlungspartner findet sie kurzzeitig zu sich selbst, wissend, daß auch diese keine Lösung eröffnet. Das Regime Arafat ist gescheitert, aber es gibt weder konzeptionell noch personell eine Alternative.

Auf diese Weise hat der Verhandlungsprozeß an den Rande einer diplomatischen Vereinbarung geführt und zugleich die gesellschaftlichen Wurzeln der Versöhnung verdörren lassen. Aus dieser Sackgasse läßt sich nur - und auch das nur mit großer Mühe - herausfinden, wenn weniger über Gipfeltreffen und diplomatische Verabredungen geredet, und mehr über die politische Substanz einer Konfliktlösung nachgedacht wird. Diese aber kann nur in der prinzipiellen Gleichheit und dem gegenseitigem Respekt der Konfliktpartner bestehen, im Verzicht auf Dominanz und Kontrolle. Das ist heute schwer vorzustellen, aber letztlich die einzige Chance, wenigstens in ein oder zwei Generationen zu einer Versöhnung der beiden Gesellschaften zu kommen. Nicht ein paar Prozent mehr oder weniger Territorium, nicht irgendwelche ausgefeilten Mechanismen zur Kontrolle Ostjerusalems oder andere Details sind die Schlüssel zur Lösung, sondern ausschließlich die Frage, ob es Israel gelingt, bei allem Mißtrauen und aller Ablehnung die palästinensische Gesellschaft als legitim und prinzipiell gleichberechtigt neben sich zu ertragen - und die politischen und völkerrechtlichen Konsequenzen daraus zu ziehen.

Aus: Freitag, 20. Oktober 2000

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