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"Europa sollte solche Sheriffaktionen nicht dulden"

Interview mit einem ehemaligen Botschafter - Erklärung des UN-Sicherheitsrats - Gespannte Lage nach israelischem Angriff auf Gefängnis

Im Folgenden dokumentieren wir Berichte und Kommentare zur Situation in den Palästinensergebieten, nachdem Israel am 14. März 2006 in Jericho eine gefährliche Militäraktion durchgeführt hat.



Zunächst aber eine Agenturmeldung vom 15. März:

Israel hat seine Polizei nach der Erstürmung des palästinensischen Gefängnisses in Jericho in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Die Behörden fürchteten Anschläge, berichtete der israelische Rundfunk am 15. März. Auf öffentlichen Plätzen sei die Präsenz der Polizei verstärkt worden.
Die israelische Armee hatte am Vortag den inhaftierten Palästinenserführer Ahmed Saadat und mehrere Gefolgsleute aus der Haftanstalt in ihre Gewalt gebracht. Soldaten hatten dabei drei Palästinenser erschossen. Saadat ist Generalsekretär der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Rache für die Erstürmung des Gefängnisses angekündigt hat.

Militante Palästinenser ließen unterdessen im Gazastreifen ihre drei letzten ausländischen Geiseln frei. Die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) habe der Polizei zwei Franzosen und einen Koreaner übergeben, die nun auf dem Weg nach Gaza seien, teilten palästinensische Sicherheitskreise mit. Die Ausländer waren am Vortag als Reaktion auf die Erstürmung des Gefängnisses in Jericho verschleppt worden. Militante Palästinenser hatten zeitweise mindestens neun Ausländer in ihrer Gewalt.

Bereits wenige Stunden nach der Erstürmung des Gefängnisses hatte der UN-Sicherheitsrat in New York Israelis und Palästinenser zur Ruhe gemahnt. "Die Mitglieder des Rates sind ernsthaft besorgt über die Gewalt", sagte der amtierende Ratspräsident Cesar Mayoral aus Argentinien am Dienstagabend [14. März] in einer Erklärung an die Presse. (Siehe hierzu die ausführliche Meldung im Kasten.) Wegen des israelischen Militäreinsatzes hatte zuvor Palästinenserpräsident Mahmud Abbas seine Europareise abgebrochen. Er kehrte noch am Abend in die Palästinensergebiete zurück.

Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amre Mussa, verurteilte die israelische Militäraktion scharf. Gleichzeitig erhob er schwere Vorwürfe gegen die USA und Großbritannien. "Der Abzug der internationalen Beobachter vor der Operation wirft die Frage auf, ob da nicht vorab eine Abstimmung zur Vorbereitung dieser Aggression stattgefunden hat", erklärte Mussa in Kairo. Die jordanische Regierung verurteilte den Militäreinsatz als "ernste Eskalation", die die Spannungen in der Region verstärke.

(dpa, 15. März 2006)

Security Council calls for urgent steps to restore calm in Middle East

Security Council, 14 March 2006 – Expressing serious concern over the upsurge in violence in the West Bank and Gaza today, the United Nations Security Council called on the parties to exercise maximum restraint and to take urgent steps to restore calm.

In a statement to the press after a closed-door briefing by Ibrahim Gambari, UN Under-Secretary-General for Political Affairs, the Council also called for the release those who have been kidnapped.

In his briefing, Mr. Gambari also expressed deep concern over the situation. “Israel’s violent incursion – as well as the Palestinian actions carried out in response – risk destabilizing even further the already tense situation in the Middle East,” he told the Council.

He said the violence occurred as news spread of Israeli forces attacking a prison compound in Jericho and taking into custody, among many other prisoners, Ahmed Saadat, leader of the Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP), who had been accused of involvement in the 2001 murder of an Israeli minister.

The Israeli operation, which lasted about 10 hours, took place after the United States and United Kingdom withdrew monitors from the prison. They left today in response to a statement by Palestinian Authority President Mahmoud Abbas indicating that he would consider releasing Mr. Saadat under certain conditions.

In the ensuing protests, at least seven foreigners in the West Bank and Gaza were kidnapped by militants, though several were subsequently released.

One PFLP gunman was killed in a clash with Palestinian police trying to prevent the kidnappings, Mr. Gambari said. PFLP militants and other protesters set fire to the British Council, stormed the building used by the European Commission and attacked a British facility in Ramallah.

He said the UN has evacuated nearly all international staff from Gaza, restricting staff movement in the West Bank, and other international organizations have taken similar measures.

Quelle: Website der UNO: www.un.org



Olmert setzt auf Risiko

Gefängnisstürmung sorgt für Aufruhr in den palästinensischen Gebieten

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem


Nach der Stürmung des Gefängnisses in Jericho wurden in den palästinensischen Gebieten britische Kulturinstitute verwüstet und mehrere Ausländer entführt – erste Folgen einer gefährlichen Wahlkampftaktik, sagen Beobachter.

Die Lage bleibt angespannt. Nach mehreren Drohungen militanter palästinensischer Gruppen hatten bis zum Mittwochmittag [15. März] viele Mitarbeiter ausländischer Organisationen, Journalisten und Touristen die palästinensischen Gebiete verlassen. Kulturinstitute und Konsulate wurden von der Polizei streng bewacht. Schon am Dienstag [14. März] hatte der Polizeichef von Gaza seine Beamten angewiesen, auf jeden zu schießen, der versuchen sollte, einen Ausländer zu entführen. Doch auch dies hatte nicht verhindern können, dass sich am Dienstag 14 von ihnen in den Händen militanter Gruppen wiederfanden. Gestern wurden aber alle wieder freigelassen.

Nach der Stürmung des Gefängnisses in Jericho durch die israelische Armee am Dienstag stehen die palästinensischen Gebiete Kopf, und das ist nach Ansicht von Beobachtern vor allem die Schuld der Wahlkampftaktik des amtierenden israelischen Premierministers Ehud Olmert, der bis zur Wahl in Israel am 28. März die Amtsgeschäfte für den schwer erkrankten Regierungschef Ariel Scharon führt.

In den vergangenen Wochen war Kadima, die Partei Olmerts, in den Umfragen abgesunken. »Olmerts größtes Problem war, dass er in der Öffentlichkeit als entscheidungsschwach und übervorsichtig gilt«, schreibt Ofer Schelah in der Zeitung »Jedioth Ahronoth«: »Ein erfolgreicher Militäreinsatz, gepaart mit seiner Ankündigung, bis 2010 weitere Siedlungen zu räumen, war genau das, was er in dieser Situation brauchte.« Jossi Werter von der Zeitung »Haaretz« geht derweil davon aus, das Olmert die Situation zwar nicht heraufbeschworen, sie aber dennoch nach besten Kräften ausgenutzt hat: »Alles war auf die bestmögliche Medienwirkung ausgelegt; dass die Operation deshalb länger dauerte und risikoreicher war, als sie hätte sein müssen, spielte keine Rolle.«

Zwar beteuerte Gideon Esra, Minister für innere Sicherheit, dass die Operation einzig und allein der Sicherheit des Staates habe dienen sollen. Der Abzug der US-amerikanischen und britischen Beobachter hatte schon seit Monaten im Raum gestanden; vor zwei Wochen hatte der palästinensische Präsident Machmud Abbas zudem davon gesprochen, er werde der Freilassung der Mörder des israelischen Tourismusministers Rechawam Seewi zustimmen, wenn die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) die Verantwortung für das weitere Schicksal der fünf Männer übernehme.

Doch ob die Militäroperation in dieser Form, zu diesem Zeitpunkt wirklich notwendig war, daran hegen viele Zweifel: »Mir scheint, als habe es die israelische Regierung auf eine Eskalation angelegt«, sagt ein Mitarbeiter der britischen Botschaft in Tel Aviv. In mehreren Briefen, die gemäß der Übereinkunft über die Inhaftierung der fünf Männer auch an die israelische Regierung gesandt wurden, habe man die palästinensische Führung dazu gemahnt, sich künftig an die Vereinbarungen zu halten, will heißen, den Zugang der Häftlinge zu Telefonen einzuschränken, die Zusammenarbeit mit dem palästinensischen Wachpersonal zu verbessern und dem 14-köpfigen Beobachterteam nicht zuletzt auch sichere Arbeitsbedingungen zu bieten. Die Briten und US-Amerikaner waren in der Vergangenheit mehrmals bedroht worden. »Wir hätten mit Sicherheit eine Lösung für diese Probleme finden können«, ergänzt der Mitarbeiter, »Es hat aber keinen ernsthaften Versuch aus Jerusalem gegeben, sich an der Suche zu beteiligen.«

So wertet »Jedioth«-Autor Schelah die Ereignisse nach der Belagerung als erste Folgen einer gefährlichen Wahlkampfstrategie: »Zu befürchten ist eine Eskalation, die Olmert nicht nur Stimmen kosten würde, sondern auch viele Menschenleben auf beiden Seiten fordern könnte.« Es sei nicht das erste Mal gewesen, dass eine Regierung Wahlkampf mit Militäroperationen betrieben hat. So ließ Menachem Begin nach dem glücklosen Libanon-Feldzug 1981 einen irakischen Atomreaktor zerstören und gewann die Wahl. 1996 ordnete Schimon Peres, der damals die Amtsgeschäfte für den ermordeten Jitzhak Rabin führte, die Operation »Früchte des Zorns« in Libanon an, verprellte damit die linken Wähler und verlor. »Ähnliches könnte auch diesmal passieren«, so Schelah: »Die palästinensischen Gebiete sind erneut zum Pulverfass geworden. Ein Fehler Olmerts, und wir stehen vor Schlimmerem als einer verlorenen Wahl für Kadima.«

Aus: Neues Deutschland, 16. März 2006


Darf die EU denn drohen?

Heinz-Dieter Winter* über die neuerliche Gewalt in Nahost

ND: Eine neuerliche Eruption der Gewalt hat Nahost erfasst mit dem Sturm der Israelis auf ein palästinensisches Gefängnis. Ist der Westen durch feigen oder absichtsvollen Abzug mitschuld?

Winter: Wie weit die Schuld des Westens hier geht, ist schwer zu sagen. Zu denken gibt es schon, dass die internationalen Beobachter aus Großbritannien und den USA kurz vorher das Gefängnis in Jericho geräumt haben. Aber Mitverantwortung an den täglichen Tragödien eskalierender Gewalt im Nahen Osten kann man der westlichen Politik nicht absprechen.

Wegen ihrer Haltung zur Hamas?

Auch wegen ihres Verhaltens gegenüber einem aus anerkannt demokratischen Wahlen hervorgegangenen Sieger. Drohungen mit Boykott und Einstellung der Hilfe offenbaren ein kontraproduktives Konzept. Im palästinensisch-israelischen Konflikt kann es keinen Frieden gegen oder ohne Hamas geben. Man kann die Spirale zu verurteilender terroristischer Gewalt seitens islamistischer Extremisten – übrigens hat Hamas seit einem Jahr keine Selbstmordattentate mehr durchgeführt – und so genannter gezielter Tötungen und anderer Gewaltakte der israelischen Armee nicht beenden, indem einseitig Bedingungen nur an die palästinensische Seite gestellt werden. Die Forderungen von Hamas, dass Israel die 1967 besetzten Gebiete räumt, die Siedlungstätigkeit einstellt und das Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge zumindest anerkennt, sind völkerrechtlich begründet. Das scheint jedoch gegenwärtig in der europäischen Politik keine Rolle zu spielen.

Was sollte sich wie ändern?

Dialogbereitschaft auch mit Hamas. Dass ein Dialog mit Islamisten dringend notwendig ist, haben wir, 28 ehemalige Botschafter, bereits vor einem Jahr in einem Brief an den Präsidenten und alle Fraktionen des Europäischen Parlaments gefordert. Denn mindestens im nächsten Jahrzehnt müssen wir mit Gesellschaftskräften südlich des Mittelmeeres und in Asien koexistieren, die ihre politischen Forderungen in der Sprache des Islam formulieren. Anlässlich des Verhaltens zu dem palästinensischen Wahlergebnis, des sich zuspitzenden Konflikts mit Iran und den Mohammed-Karikaturen haben wir uns jetzt mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit gewandt, die Vorschläge für eine Deeskalation des Spannungsverhältnisses zwischen Europa und der islamischen Welt unterbreitet.

Aber wenn das Existenzrecht Israels negiert wird?

Das ist unbestreitbar eine verantwortungslose Provokation Teherans. Aber auch von Hamas muss ein entsprechender Passus in ihrer 1987 angenommenen Charta gestrichen werden. Das sollte aber nicht als Vorbedingung für einen Dialog gestellt werden. Auch die PLO brauchte mehr als zwanzig Jahre, bis sie dazu bereit war. Hamas ist bereit zu einem »langen Waffenstillstand«. Das wäre schon etwas. Will der Westen eine Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes, muss er aber auch von Israel eine Abkehr von Gewalt verlangen. Europa sollte nicht ungestraft solche Sheriffaktionen wie die jetzige Gefängniserstürmung dulden. Eine Politik, die vorrangig auf den Einsatz militärischer Mittel setzt, macht die Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer.

Die EU-Außenkommissarin drohte den Palästinensern mit Kürzung der Gelder. Darf die das?

Die Übergriffe auf EU-Einrichtungen sind zweifellos zu verurteilen. Aber Entzug der Hilfsgelder kann die Lage nur verschlimmern und trifft immer die Falschen.

* Der Botschafter a.D ist Mitglied der Initiative "Diplomats for peace with the Islamic world"
Die Fragen stellte Karlen Vesper

Aus: Neues Deutschland, 16. März 2006


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