System aus den Fugen
Arabischer Aufbruch: Säulen der Stabilität und der Energieversorgung gehen verloren – der Westen muss umdenken
Von Mohssen Massarrat *
Die tunesische Revolution
hat das System Ben Ali
hinweggefegt, die ägyptische
Revolution ist im
Begriff, nach dem Sturz
des Präsidenten das System Mubarak
zu beseitigen. Kein Zweifel, die Epoche
der uneingeschränkten Herrschaft in
der arabischen Welt geht zu Ende.
Nach Jahrzehnten klientelistischer
Willkürregimes scheinen die arabischen
Völker nunmehr entschlossen,
ihre Gesellschaften zu demokratisieren.
Die Ben Alis, Mubaraks, Bouteflikas,
Salehs oder Gaddafis werden bald
vergessen sein. Mit ihrem Abgang bekommen
nicht nur die westlichen Demokratien
– und das ist die Ironie der
Geschichte –, sondern auch Israel, die
bisher einzige Demokratie im Nahen
Osten, ein riesiges Problem.
Nicht ganz ohne Grund übertreffen
die Sorgen von Obama, Merkel, Sarkozy,
Cameron und Netanjahu wegen
des Verlustes an „Stabilität“ bei weitem
die Freude über einen demokratischen
Aufbruch in den arabischen
Staaten. Wir vermissen Mubarak! –
diese Schlagzeile der israelischen Zeitung
Haaretz bringt die heraufbeschworene
Paradoxie auf den Punkt,
denn die Tage israelischer Besatzung
von Palästina dürften gezählt sein.
Ein Blick auf die Geschichte der Einbettung
des Nahen Ostens in das von
den USA dominierte Hegemonialsystem
kann helfen, Hintergründe dieses
regionalen Wandels besser zu verstehen.
Im Grunde begann die Epoche der
Demokratisierung, der Modernisierung
und Selbstbestimmung im Nahen
Osten schon 1951 mit der Machtübernahme
der ersten demokratisch
gewählten Regierung von Mohammad
Mossadegh im Iran. Statt in
einen Freudentaumel über die Chance
zur Verbreitung westlicher Werte
im Orient zu verfallen, versuchten
die Regierungen Großbritanniens
und der USA die Demokratiebewegung
im Iran zu zerschlagen. Für diesen
kuriosen Gegensatz zwischen
okzidentaler und orientalischer Demokratie
gab es zwei Gründe: Mossadegh
wollte über das eigene Öl selbst
bestimmen und weigerte sich, Anhängsel
des Westens im Kalten Krieg
zu sein. Daraufhin wurde iranisches
Öl boykottiert, Mossadegh dämonisiert
und schließlich durch einen von
der CIA gelenkten Militärputsch im
Sommer 1953 gestürzt.
Schon damals tauschte der Westen
Demokratie gegen Stabilität im Interesse
von Energiesicherheit und antisowjetischen
Allianzen. Zum einen
wurden fortan die Schah-Diktatur und
die saudischen Herrscher zu den
Hauptsäulen dieser Stabilität erkoren
und aufgerüstet. Und zum anderen
wurde Israel zum strategischen Brückenkopf
inmitten der arabischen
Welt. Tatsächlich begann auch die enge
Militärkooperation der USA mit Israel
erst im Laufe der sechziger Jahre.
Ägypten ersetzte Iran
Als jedoch 1979 das System von Reza
Schah Pahlavi durch den Zorn eines
gedemütigten und um die Demokratie
gebrachten Volkes zusammenbrach,
tauschten die USA Iran gegen
Ägypten aus, um über einen neuen
Stabilitätsanker in der für sie geostrategisch
wichtigsten Weltregion zu verfügen.
Aus der Achse Teheran-Riad-Tel
Aviv wurde die Achse Kairo-Riad-Tel
Aviv. Seitdem übernahm Mubarak die
Rolle des gestürzten Schahs samt der
Militärhilfen, die bis dato Teheran erreicht
hatten. Diese neue geostrategische
Allianz lebte einerseits von bilateralen
Beziehungen zwischen den
USA und diesen drei Staaten, andererseits
vom Verhältnis zwischen Ägypten
und Israel sowie von intensiven
Kontakten zwischen Kairo und Riad.
Dabei wurde Ägypten zur regionalen
Schutzmacht der meisten ebenfalls
von den USA abhängigen arabischen
Autokratien in Tunesien, Marokko, Jemen
und Jordanien.
Dieser Schulterschluss zwischen
dem Westen, Israel und den arabischen
Diktaturen verschleierte eine
Demokratiefeindlichkeit, die jetzt zu
Ende geht und Konsequenzen hat: zunächst
einmal den möglichen Verlust
einer Kontrolle des Ölhandels im Nahen
Osten. Mit Begriffen wie Stabilität
oder Energiesicherheit verschrieb sich
der sonst so marktwirtschaftlich orientierte
Westen auf dem fossilen
Energiemarkt der Region einer Außerkraftsetzung
des Gesetzes von Angebot
und Nachfrage. Statt stark steigender
Preise für diese erschöpfbaren
Rohstoffe wurde ein moderates Preisniveau
durchgesetzt. Doch die Ära
politisch-militärisch etablierter Dumpingpreise
für Öl und Naturgas geht
unwiderruflich zu Ende. China und Indien
sind entschlossen, ihren Bedarf
bei jedem Preis zu sichern, und haben
durch ihren großen Energiehunger
auf den Weltenergiemärkten faktisch
einen Freihandel herbeigeführt.
Eine weitere Konsequenz: Bislang
konnten sich unter dem westlichen
Stabilitätsschirm in der arabischen
Welt klientelistisch-autoritäre Systeme
halten. Jedes Regime konnte nach
eigenem Gutdünken und mit westlichem
Beistand handeln, solange es
die gewünschte Stabilität garantierte.
Saddam Hussein wurde im Iran-Irak-
Krieg (1980 - 1988) unverhohlen unterstützt
und sogar mit chemischen
Waffen aufgerüstet, weil sein Gewaltsystem
der westlichen Definition von
Stabilität in der Region zuträglich
war. Er hatte erst ausgesorgt, als er
sich 1990 anmaßte, mit dem Einmarsch
in Kuweit diese Stabilität zu
stören.
Mubarak hingegen wurde zum treuesten
Verbündeten des Westens, weil
er gegen den Willen der ägyptischen
Bevölkerung tat, was man von ihm erwartete.
Seine Vorgänger Nasser und
Sadat waren gewiss keine Demokraten,
aber Helden in den Augen ihrer Landsleute,
weil sie die Würde der Araber
verteidigten. Mubarak tauschte Selbstachtung
gegen jährlich zwei Milliarden
Dollar US-Hilfe, um sein System zu finanzieren.
Das ägyptische Volk hat gezeigt,
dass diese Ära ein für allemal zu
Ende ist. Die scheinbar festen Säulen
der vom Westen gewünschten Stabilität
geraten durch die Demokratiebewegungen
in Ägypten, Tunesien, Algerien,
Bahrain, Jemen oder Libyen aus
den Fugen.
Nun soll die ägyptische Armee –
von den USA finanziell und strukturell
abhängig – der Revolution den
Wind aus den Segeln nehmen und
durch Konzessionen sowie halb-demokratische
Verhältnisse vom westlichen
Stabilitätsschirm retten, was zu
retten ist. Vor allem soll verhindert
werden, dass der revolutionäre Funke
aus Ägypten auf Saudi-Arabien und
die Scheichtümer am Persischen Golf
überspringt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz
rechtfertigte Bundeskanzlerin
Angela Merkel scheinheilig
die westliche Haltung gegenüber
der Demokratiebewegung in der
arabischen Welt als „Spannungsverhältnis
zwischen unseren Werten und
unserem Bedürfnis nach Sicherheit
und Stabilität“. Sie vergaß zu erwähnen,
dass der Westen sich bisher noch
immer für Stabilität und gegen die
Demokratie entschieden hat. So wie
1953 im Iran auch 1991 nach dem
Wahlerfolg der Islamischen Heilsfront
(FIS) in Algerien und 2006 nach dem
Wahlsieg von Hamas in Palästina.
Schließlich erhielt der Zionismus
unter dem Stabilitätsschirm des Westens
neuen Auftrieb. Hardliner fühlten
sich durch die Rolle Israels als strategischer
Brückenkopf und den Pakt
mit Mubarak ermutigt, ihre Besatzungspolitik
zu forcieren. Israels Frieden
mit Ägypten wurde zum Separatfrieden
und war dazu angetan, die Palästinenser
durch fortgesetzten
Siedlungsbau zu vertreiben und einen
palästinensischen Staat zu blockieren.
Mit dem Sturz Mubaraks ist Israel nun
die wichtigste Stütze in der arabischen
Welt verloren gegangen.
Allein sinnvoll
Es ist höchste Zeit: Der Westen und Israel
müssen endlich einsehen, dass die
Fundamente ihres Stabilitätsschirms
unwiderruflich erodieren. Wenn sich
ein freier Handel mit Öl und Naturgas
aus Nahost durchsetzt, ist die Zeit reif
für ein Ende des US-dominierten Hegemonialsystems.
Dass dann Israel
seine Brückenkopffunktion und damit
auch die bisherige Unterstützung für
seine Besatzungspolitik verliert, ist absehbar.
Barack Obama schien vor seiner
Wahl 2008 verstanden zu haben, dass
die US-Dominanz weltweit schwindet.
Als Präsident änderte er jedoch unter
dem Druck der US-Ölkonzerne und
des Militärs seine Haltung und orientierte
sich an deren kurzfristigen Interessen.
Seine Vorstellung vom „geordneten
Übergang der Macht“ in Kairo
läuft darauf hinaus, das Ende der eigenen
Dominanz in Nahost so lange wie
möglich hinauszuschieben – doch
werden sich Sehnsucht nach Frieden
und Demokratisierung in der Region
kaum mehr aufhalten lassen.
Alle fundamentalistischen Ideologien
– der arabische Nationalismus
ebenso wie der religiöse Extremismus
– haben ihren Zenit überschritten.
Dies gilt gleichermaßen für einen zionistischen
Fundamentalismus in Israel,
das nicht umhin kommen wird,
nach einer Koexistenz mit den neuen
Demokratiebewegungen sowohl in
den arabischen Staaten als auch in der
Türkei und im Iran zu suchen.
Demokratie und die Bereitschaft
zum friedlichen Zusammenleben von
Moslems, Christen und Juden in Nahost
waren schon immer die einzige
sinnvolle Perspektive für eine Region,
die ganz zu Recht als Wiege der Zivilisation
und Heimstätte aller drei Religionen
gilt. Egoistische Interessen
westlicher und eigener Eliten sorgten
bisher dafür, diese Option zu verschütten.
* Mohssen Massarrat ist Politikwissenschaftler
und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac.
Dieser Beitrag erschien im Meinungsmedium "der Freitag" vom 24. Februar 2011.
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