Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mauern für den Frieden?

Von Reiner Bernstein, Köln*

Während sich die israelische Sharon gegen die Stationierung internationaler Beobachtern in der Westbank und im Gazastreifen sträubt, um Souveränitätseinbußen über alle Teile des "Landes Israel" zu verhindern, mehren sich unter dem Eindruck palästinensischer Terrorakte jene Stimmen, die für die sofortige Räumung besetzter Gebiete und den Bau eines Sicherheitszauns plädieren. Dass Arafat angesichts solcher Pläne nicht in stürmischen Jubel ausbricht, unterstreicht einmal mehr, dass ein israelischer Rückzug mit der Annexion erheblicher Teile der Westbank und des Gazastreifens einherginge und dass die Autonomiebehörde auf die politische Unabhängigkeit nicht vorbereitet ist: Der Aufbau staatlicher Organe stockt, und die Kräfte einer pluralen Zivilgesellschaft liegen im Argen.

Schon in den Jahren des britischen Mandats wurde im Zionismus mit dem Plan einer "eisernen Mauer" gespielt, um arabische Anschläge im Keim zu ersticken. Unter dem Eindruck der Shoah sollte 1947/48 ein Staat geschaffen werden, der so jüdisch sein sollte, wie England englisch ist; arabische Fluchtbewegungen wurden ob dieses Ziels ermutigt, erzwungen oder in Kauf genommen. Nach 1967 tauchte die Idee der "jordanischen Option" auf, um ein unabhängiges palästinensisches Gemeinwesen zu verhindern. Dass sie mit Überlegungen eines Transfers großer Teile der palästinensischen Bevölkerung nach Jordanien einherging, machte ihre Protagonisten politisch nicht gerade sympathisch, von der praktischen Undurchführbarkeit einmal abgesehen. Der Sicherheitszaun entlang der Grenze zum Libanon hat die "Hisbollah" nicht aufgehalten, so dass Ehud Barak im Frühjahr 2000 den Truppenrückzug befahl.

Mitte der achtziger Jahre vertrat der Soziologe Meron Benvenisti die Auffassung, dass die "schleichende Annexion" seit 1967 vollendete Tatsachen geschaffen habe und nicht mehr rückgängig zu machen sei. Als 1993 die Prinzipienerklärung unterzeichnet wurde, veröffentlichte er einen selbstkritischen Essay unter dem Titel "Warum habe ich mich geirrt?". In ihm wollte er eingestehen, dass er der "Land Israel"-Ideologie eine zu große Wirkungsmacht gegenüber der pragmatischen Politik eingeräumt habe. Benvenisti bemerkte nicht, dass die Osloer Vereinbarungen Yitzhak Rabin und Shimon Peres die Möglichkeit einräumten, die Siedlungspolitik fortzusetzen. Nach dem Regierungsantritt Ehud Baraks glaubten Beobachter erneut an den Einzug politischer Sachlichkeit. Mit dem Scheitern von Camp David und dem Besuch von Sharon auf dem Plateau des "Noblen Heiligtums" (Haram al-Sharif) sind diese Illusionen endgültig zerstoben: Theologische Prämissen und religiöse Narrative verhindern den politischen Realismus. Denn auch nach dem Ende palästinensischer Gewalttaten ist an einen Palästinastaat nicht gedacht. Dass kein Volk seine nationalen Aspirationen für ein Butterbrot verkauft, wie der Revisionistenführer Zeev Jabotinsky in den zwanziger Jahren schrieb, wird mit der Vorstellung abgetan, dass die Zeit für Israel spiele.

Die Jerusalemer Politik hat viel dazu beigetragen, dass das alte arabische Souveränitätskonzept von "Haus des Islam" neue Geltung entfaltet und "Märtyrer" gebiert. In der palästinensischen Gesellschaft gewinnt der Glaubenssatz von der Illegitimität Israels an Boden. Sein Einfluss macht sich nicht nur in der Westbank und des Gazastreifens bemerkbar, sondern gewinnt auch unter den eine Million arabischen Staatsbürgern Israels viele Anhänger. Für alle israelische Regierungen wären sie das exemplarische Experimentierfeld für die Realisierung des Prinzips von politischer Ebenbürtigkeit und patriotischem Respekt gewesen. Die Versäumnisse der Vergangenheit werden heute zwar allenthalben beklagt, aber die grundsätzliche Neuorientierung lässt auf sich warten. Soll den mittlerweile unüberhörbaren Beschwerden und Protesten der arabischen Minderheit gegen Vernachlässigung und Diskriminierung mit Mauern und Zäunen in Galiläa, im Kleinen Dreieck und im Negev begegnet werden?

Die Funktionstüchtigkeit von Sicherheitszäunen und Sperrzonen ist so realistisch wie die Quadratur des Kreises. Gewalt und Blutvergießen werden deshalb so lange andauern, bis beide Seite den Willen zu einem Frieden zu erkennen geben, der das gleichberechtigte und ebenbürtige Zusammenleben in welcher verfassungsrechtlichen Konstruktion auch immer ermöglicht; der palästinensische Staat ist nur eine Variante in dieser Gleichung. Die Besinnung auf Wege der sozialen Verständigung und des politischen Kompromisses wird, zugegebenermaßen, noch lange auf sich warten lassen. Aber sie ist die einzige mit Zukunft. Von dem amerikanischen Lyriker David Frost stammt die in Israel vielfach zitierte Vermutung, gute Zäune machten gute Nachbarn. Ihre Übertragung auf ein Land, um das zwei Völker seit einem Jahrhundert blutige Auseinandersetzungen führen, ist abwegig. Die Terroranschläge in den USA haben, wenn es eines zusätzlichen Beweises bedurft hätte, noch einmal unterstrichen, das zum äußersten entschlossene Täter technologisch ausgefeilte Abwehrmechanismen überwinden können.

* Der Autor arbeitet als Historiker in der Melanchthon-Akademie Köln und hat das Buch "Der verborgene Frieden. Politik und Religion im Nahen Osten" (Berlin 2000) vorgelegt.

Zurück zur Seite "Naher Osten"

Zurück zur Seite "Regionen"

Zurück zur Homepage