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Erneute Demütigung

Ist der palästinensische Ministerpräsident Mahmud Abbas nun zum zweiten Mal am Ende?

Von Knut Mellenthin*

Mahmud Abbas, der im Januar gewählte Nachfolger von Yassir Arafat, sieht sich von Israel abermals düpiert. Unter den Palästinensern wächst die Enttäuschung über seine erfolglose Politik. Ist er als Ministerpräsident nun zum zweiten Mal am Ende?

Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas hat in der vergangenen Woche der israelischen Zeitung Haaretz sein Leid geklagt: Wie schon im Jahr 2003, als er einige Monate lang Ministerpräsident war, gebe Israel seiner Regierung keine Chance.
»Tag und Nacht machen sie gegen mich in den israelischen Medien Stimmung«, sagte Abbas. Seit er vor gut 100 Tagen am 17. Januar sein Amt antrat, sei keine Minute vergangen ohne Kritik, Beschwerden und Stimmungsmache von israelischer Seite.

Die palästinensische Regierung habe, so Abbas, eine Reihe wichtiger Reformen auf den Gebieten Sicherheit, Finanzen und Verwaltung in Gang gebracht, aber Israel weigere sich, das anzuerkennen. Seine Sicherheitskräfte hätten Dutzende geplanter Anschläge vereitelt, hätten potentielle Attentäter verhaftet, hätten den israelischen Streitkräften beschlagnahmte Waffen und Munition übergeben – ebenfalls ohne dafür Anerkennung zu finden.

Abbas verwies auch darauf, daß Israel die im Februar zugesagte Freilassung palästinensischer Gefangener nur ansatzweise realisiert hat: Erst 500 von insgesamt etwa 9 000 Inhaftierten wurden entlassen. Statt aus mindestens fünf Städten der besetzten Westbank haben die israelischen Truppen sich nur aus zweien – Jericho und Tulkarem – zurückgezogen. Abzug kann das jedoch nicht genannt werden, weil die Zugänge zu den beiden Städten immer noch von israelischen Soldaten abgeriegelt und kontrolliert werden.

Tel Aviv bricht Vereinbarungen

Abbas klagte außerdem, daß trotz des am 8. Februar im ägyptischen Scharm el Scheich zwischen ihm und Scharon vereinbarten Waffenstillstands immer wieder israelische Übergriffe vorkommen. Als jüngstes Beispiel nannte er die Erschießung von drei Jugendlichen am 9. April, die beim Fußballspiel »zu dicht« an die israelischen Wachanlagen im Grenzgebiet zwischen dem Gazastreifen und Ägypten herangekommen waren. »Zu dicht« beginnt nach israelischem Verständnis bei etwa 100 Metern. Abbas sprach auch die Tötung eines palästinensischen Kämpfers im Flüchtlingslager Balata und Verhaftungsaktionen israelischer Streitkräfte in Nablus und Ramallah an. Erst drei Monate seien seit seinem Regierungsantritt vergangen, sagte Abbas dem israelischen Blatt, und endete mit dem verzweifelten Aufruf: »Geben Sie uns Zeit zum Handeln. Geben Sie uns eine Chance zum Handeln – und helfen Sie uns!«

Genau das aber will die israelische Regierung offenbar jetzt ebensowenig tun wie im Jahr 2003, als noch über den von der US-Administration vorgelegten »Roadmap«-Plan verhandelt wurde, den Scharon inzwischen nahezu offiziell zu den Akten gelegt hat. Das Schema der Ereignisse wiederholt sich in geradezu grotesker Weise. Schon erklären führende israelische Politiker öffentlich, daß die Regierung von Mahmud Abbas kurz vor dem Zusammenbruch stehe. Im September 2003 hatte Abbas seine kurze Regierungszeit durch Rücktritt beendet.

Verschobener Räumungsbeginn

Höchstwahrscheinlich wird der Beginn der Räumung der insgesamt 25 Siedlungen im Gazastreifen und im äußersten Norden der Westbank um drei Wochen auf Mitte August verschoben. Die endgültige Entscheidung will Premierminister Ariel Scharon erst nach dem Passah-Fest, also frühestens am kommenden Sonntag, bekanntgeben.

Es soll offenbar auf jeden Fall dabei bleiben, daß am 20. Juli der bereits von Scharon und Verteidigungsminister Schaul Mofaz unterzeichnete Evakuierungsbefehl für die Siedlungen in Kraft tritt. Zu diesem Zeitpunkt sind die insgesamt etwa 9 000 Siedler verpflichtet, ihre Häuser zu verlassen. Verschoben werden soll aber voraussichtlich der Beginn der Zwangsräumungen durch Polizei und Armee, nämlich vom 25. Juli auf den 15. August. Für die Dauer der Räumungsaktionen sind vier Wochen veranschlagt. Viele Siedler haben militanten Widerstand angekündigt, orthodoxe Rabbis fordern die Angehörigen der Sicherheitskräfte zur Befehlsverweigerung auf. Die beiden Oberrabbiner Israels haben sich ebenfalls gegen die Rückgabe besetzter Gebiete ausgesprochen, lehnen aber Aufrufe zur Gehorsamsverweigerung gegenüber der Regierung ab.

Die offizielle Begründung für die beabsichtigte Verschiebung ist so zwingend und einleuchtend, daß man sich fragen muß, warum Scharon bisher alle Einwände unterschiedlicher Seiten gegen seinen Zeitplan beiseite geschoben hatte: Auf den 14. August fällt in diesem Jahr der Tischa B’Aw, der neunte Tag des jüdischen Monats Aw. An diesem Tag wurden der Überlieferung nach der erste Jerusalemer Tempel durch die Babylonier und der zweite durch die Römer zerstört. Der Tischa B’Aw ist daher ein Trauertag, an dem aller Katastrophen gedacht wird, die das jüdische Volk im Laufe der Geschichte getroffen haben. Viele dieser Katastrophen, so heißt es, hätten sich am Tischa B’Aw ereignet. Bekanntestes Beispiel ist die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492. Auch der Beginn des Ersten Weltkriegs 1914, der von vielen Juden als Anfang einer Kette von Ereignissen gesehen wird, die im Holocaust gipfelten, fiel auf den neunten Tag des Monats Aw.

Dem Tischa B’Aw geht eine dreiwöchige Trauerzeit voraus, die in diesem Jahr am 23. Juli beginnt. Die Zwangsräumung der Siedlungen ausgerechnet in dieser Zeit wäre eine grobe politische Instinktlosigkeit. Nicht nur, weil sie genau auf Trauertage fiele, die von streng praktizierenden Juden – dazu gehört die Mehrheit der Siedler – sehr intensiv begangen werden. Und auch nicht nur, weil jetzt der Oberrabbiner der sephardischen (orientalischen) Juden behauptet, Juden dürften während der dreiwöchigen Trauerzeit nicht die Wohnung wechseln. Den wirklichen Hauptpunkt hat Pinchas Wallerstein, einer der Führer der extremistischen Siedler, sarkastisch, aber präzis benannt: »Vielleicht ist Tischa B’Aw genau richtig (für die Räumungen). Wenn man Unheil über das Volk Israel bringen will, dann ist es passend, das an einem Tag zu tun, der als Unheilstag bekannt ist.« Soll heißen: Der bisherige Zeitplan würde der Propaganda der extremen Rechten und einer künftigen Legendenbildung Tür und Tor öffnen.

Es ist erstaunlich, und im Grunde unglaubwürdig, daß Scharon über die mit seinem Zeitplan verbundenen Probleme bisher hinweggegangen war. Als Begründung heißt es, wenig überzeugend, der Ministerpräsident habe die Zwangsräumungen unbedingt rechtzeitig vor Beginn des neuen Schuljahrs am 1. September abschließen wollen.

Kommt es zur Verschiebung des Zeitplans um drei Wochen, dann sollten die Räumungen etwa Mitte September abgeschlossen sein. Ob aber die benötigte Zeit mit vier Wochen ausreichend kalkuliert ist, muß angesichts des angekündigten Widerstands bezweifelt werden. Es braucht nur geringfügige Verzögerungen zu geben, um mit den nächsten jüdischen Festtagen zu kollidieren: Am 3./4. Oktober ist Rosch Ha-Schana (Neujahr), am 12./13. Oktober folgt Jom Kippur, auch für viele nicht streng praktizierende Juden der wichtigste Festtag des Jahres, und sechs Tage später beginnt auch schon Sukkoth, das einwöchige Laubhüttenfest.

Das erklärte Ziel der extremistischen Siedlerbewegung ist es, die Räumungen in die Länge zu ziehen, um Unterstützung für ihren Widerstand zu mobilisieren, nicht nur in Israel selbst, sondern vor allem in USA, wo mehrere große jüdische Organisationen – wenn auch nicht der Mainstream – in dieser Frage weit rechts von Ariel Scharon stehen und auf die Hilfe von zig Millionen »evangelikaler« Christen vertrauen können.

Umsiedlung nicht vorbereitet

Viele israelische Kommentatoren sehen als Hauptgrund für die beabsichtigte Verschiebung des Räumungsbeginns nicht religiöse Rücksichten, sondern praktische Probleme. Obwohl Ariel Scharon seinen Rückzugsplan aus Gaza schon im April vorigen Jahres bekanntgegeben hat, sind noch kaum Vorbereitungen zu dessen Durchführung getroffen worden. Erst Ende März erwirkte Scharon im Parlament die förmliche Billigung des Plans. Erst dieser Tage haben die Sicherheitskräfte damit begonnen, die Durchführung der Zwangsräumungen konkret zu planen – zunächst als Computersimulation. Das Training von Armee und Polizei hat noch nicht begonnen, obwohl nicht nur die praktischen, sondern mehr noch die mentalen Probleme enorm sein werden.

Am schwersten aber wiegt, daß bisher kaum etwas getan wurde, um die ungefähr 9 000 Menschen, die aus dem Gazastreifen und vier kleinen Siedlungen auf der Westbank evakuiert werden sollen, unterzubringen. Offenbar gibt es dafür noch nicht einmal konkrete Pläne. Erst Mitte April hat die Regierung 4,5 Millionen Dollar freigegeben, von denen gerade einmal 150 provisorische Behausungen im Süden Israels gebaut werden sollen.

Es liegt auf der Hand, daß die völlige Ungewißheit über ihre Zukunft den Widerstandswillen der Siedler erheblich verstärkt und die Räumungen sehr viel schwieriger machen wird. Betrachtet man dies mit allen übrigen Fakten zusammen – einschließlich der ursprünglichen provokatorischen Idee, die Räumungen genau in die Trauerzeit vor Tischa B’Aw zu legen – fällt es schwer, etwas anderes als Kalkül zu vermuten. Die Absicht nämlich, den Abzugsplan in einem Fiasko enden zu lassen und den Palästinensern eine weitere schwere politische und psychologische Niederlage zu bereiten. Israel gewönne auf diese Weise wieder einmal wertvolle Zeit, um auf der Westbank und um Jerusalem herum noch mehr »Realitäten« zu schaffen – nämlich seine Siedlungen auszudehnen –, deren Respektierung die Großmächte dann mit Sicherheit von den Palästinensern verlangen würden.

Die angebliche Unfähigkeit der israelischen Regierung, rechtzeitig für die Unterbringung und Integration von gerade einmal 9000 Menschen zu sorgen, erscheint als blanker Hohn vor dem Hintergrund der Tatsache, daß Israel in den 90er Jahren rund 900000 Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen hat, davon 185000 im Jahr 1990 und 148000 im Jahr 1991. Die Gesamtzahl der Einwanderer aus aller Welt betrug 1999 immerhin noch 78400, ein Jahr später 61500 und ist seither stark rückläufig. Im vorigen Jahr lag sie bei etwa 20000. Der Rückgang veranlaßt die israelische Regierung zu großen propagandistischen Anstrengungen. Scharon rief bei Staatsbesuchen in Paris und Rom die französischen und italienischen Juden auf, massenhaft nach Israel zu emigrieren, um dem von ihm beschworenen Antisemitismus zu entgehen. Und da soll es ernsthaft ein Problem sein, 9000 evakuierte Siedler schnell und menschenwürdig unterzubringen?

Verzögerungen schaden Abbas

Die Verschiebung des Zeitplans um (mindestens) drei Wochen bringt Präsident Mahmud Abbas und die palästinensische Führung mit ihren eigenen Terminen in Schwierigkeiten. Der 17. Juli steht seit Monaten als Datum für die Wahl eines neuen palästinensischen Parlaments fest. Die jetzt amtierenden Abgeordneten wurden 1996 gewählt, ihr Mandat endete eigentlich schon 2001. Nach dem ursprünglichen israelischen Zeitplan wären am 17. Juli die Räumungsvorbereitungen im Gazastreifen schon voll im Gang gewesen. Abbas hätte dies als Erfolg seiner Politik verkaufen können.

Statt dessen wird die Verschiebung des Räumungsbeginns auf Mitte August die Frustration über Abbas’ Amtsführung verstärken. Zumal genaugenommen niemand sicher sagen kann, ob wenigstens dieser Termin eingehalten werden wird. Die militant-islamistische Hamas, die in diesem Jahr erstmals an Wahlen teilnimmt, kann vor diesem Hintergrund mit erheblich verbesserten Chancen rechnen. Schon bei Kommunalwahlen in Teilen der Westbank und des Gazastreifens im Januar schnitt Hamas bemerkenswert gut ab.

Daher könnte die Änderung des israelischen Zeitplans denjenigen in der palästinensischen Führung Auftrieb geben und Vorwände liefern, die ohnehin darauf drängen, das Wahldatum weiter nach hinten zu schieben. Für diesen Fall hat Hamas aber angekündigt, sich dann nicht mehr an die im März mit Abbas getroffene Vereinbarung eines Waffenstillstands gegenüber Israel zu halten.

Ein weiterer wichtiger Termin für Abbas ist am 4. August der Kongreß der Fatah, die erstmals seit 1987 eine neue Führung wählen will. Nach dem ursprünglichen Zeitplan lag das Datum genau in der Zeit der Räumungen, was Abbas entgegengekommen wäre. Aufgrund der neuen Situation ist auch dort jetzt mit größeren Schwierigkeiten für den Nachfolger Arafats zu rechnen.

Rücktritt oder Attentat?

Ariel Scharon hat zu keinem Zeitpunkt einen Zweifel daran gelassen, daß es ihm lediglich um die Koordinierung seines Gaza-Abzugsplans mit den Palästinensern geht, nicht aber um Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts und einen israelischen Rückzug aus allen besetzten Gebieten. Den wird es nach dem erklärten gemeinsamen Willen von Scharon und Bush ohnehin auf gar keinen Fall geben. Als Belohnung für die Präsentation von dessen Abzugsplan gab Bush es dem israelischen Regierungschef schon im April vorigen Jahres schriftlich, daß es »im Licht der neuen Realitäten« unrealistisch sei, von Israel eine vollständige Räumung der besetzten Gebiete zu erwarten. Jede endgültige Verhandlungslösung, so Bush damals, müsse »auf gegenseitig vereinbarten Veränderungen beruhen, die diesen Realitäten entsprechen«.

Zu den »neuen Realitäten« gehört, daß das Gebiet, das theoretisch noch für einen Palästinenserstaat zur Verfügung stünde, durch jüdische Siedlungen stark reduziert und zerstückelt ist. Der arabische Teil von Jerusalem ist dadurch so isoliert, daß die alte Forderung, Jerusalem zur Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staates zu machen, faktisch kaum mehr erfüllt werden kann. Und die israelische Regierung erteilt, von den USA dafür nur sehr zurückhaltend und ohne praktische Folgen getadelt, in geradezu provokatorischer Weise immer neue Baugenehmigungen für die Siedlungen in den besetzten Gebieten.

Die Anfang April veröffentlichte Meinungsumfrage eines Instituts in Ramallah kommt zum Ergebnis, daß 65 Prozent der Palästinenser nicht mehr an die Möglichkeit einer beständigen Friedensregelung mit Israel glauben. Nur 3,1 Prozent hoffen noch auf eine Verhandlungslösung. Weil Mahmud Abbas erst seit drei Monaten regiert, haben palästinensische Meinungsforscher bisher darauf verzichtet, Umfragen über die Bewertung seiner Politik durchzuführen. Das Ergebnis wäre vermutlich niederschmetternd.

Daß Abbas nicht an die enorme Popularität und das Charisma des im November verstorbenen Yassir Arafat würde anknüpfen können, war von Anfang an klar. Gewählt wurde er im Januar mit 62 Prozent der Stimmen – bei einer Wahlbeteiligung, die nur knapp über 50 Prozent lag. Sein wichtigster potentieller Gegenkandidat, der in Israel inhaftierte, sehr populäre Marwan Barghouti, hatte im Dezember unter starkem Druck seiner politischen Freunde im radikalen Flügel der Fatah seine Kandidatur zurückgezogen. Ausschlaggebend dafür war vor allem die Ankündigung der Regierungen Israels und der USA, daß sie auf gar keinen Fall mit jemand anderem als Mahmud Abbas verhandeln würden. Außerdem hatte Abbas die Radikalen durch einen demagogischen Wahlkampf auf seine Seite gezogen, indem er sich immer wieder an der Seite bekannter Führer des bewaffneten Widerstands zeigte und, wie in alten Zeiten, von Israel als dem »zionistischen Feind« sprach. Die israelischen Medien verfolgten diese Auftritte mit verständnisvollem Augenzwinkern.

Daß Mahmud Abbas in absehbarer Zeit zum zweiten Mal fallen wird, ist angesichts der zunehmenden Enttäuschung und Verbitterung über seine Politik, gerade auch in den Reihen seiner eigenen Fatah, kaum zu bezweifeln. Seine ganz offen von der US-Administration diktierte und von der CIA kontrollierte »Reform« der palästinensischen Sicherheitskräfte – mit der Ablösung der meisten Spitzenfunktionäre und der Entlassung von Hunderten Mitarbeitern – könnte der Tropfen sein, der das Faß zum Überlaufen bringt. Rücktritt oder Attentat, das scheint die einzige noch offene Frage zu sein.

* Aus: junge Welt, 27. April 2005


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