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Nahost-Konflikt: "... Entsetzt über das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung..."

Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient: Memorandum an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland

Im Folgenden dokumentieren wir eine Erklärung der wissenschaftlichen Vereinigung "Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient - DAVO", die von über 100 Erstunterzeichnern unterschrieben wurde.

Als BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland, die in der Region des Nahen Osten leben, über den Nahen Osten arbeiten und sich über Jahre mit dem palästinensisch-israelischen Konflikt beschäftigt haben, sind wir
  • entsetzt über das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung der israelischen Militärintervention in den Palästinensischen Gebieten und die massive Verletzung elementarer Menschenrechte durch das israelische Militär;
  • ernsthaft besorgt über die Zukunft des Friedens im Nahen Osten. Die Intervention, die genau einen Tag nach der Verabschiedung des arabischen Friedensplans erfolgte, in dem Israel eine gesicherte Existenz neben einem palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 angeboten wurde, wird in der arabischen Welt als Brüskierung des Friedenswillen interpretiert.
  • bestürzt über das Verhalten Ariel Sharons - verbal unterstützt von Präsident Bush -, der sich das Recht nimmt, den gewählten Präsidenten eines Volkes eigenmächtig absetzen zu wollen, um sich Verhandlungspartner auf der Gegenseite selber auszuwählen. Wir sehen darin eine eindeutige Verletzung internationaler Rechtsnormen und demokratischer Grundprinzipien.
  • als EuropäerInnen brüskiert über die kategorische Zurückweisung des vom Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi, gemachten Vorschlags einer internationalen Nahostkonferenz sowie über die Tatsache, dass dem Hohen Repräsentanten der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solanas, und dem spanischen Außenminister Jose Piqué, ein Treffen mit dem palästinensischen Präsidenten Yassir Arafat durch das israelische Militär verweigert wurde. Mit der Zerstörung der weitgehend von der EU finanzierten palästinensischen Infrastruktur wurde auch ein Teil europäischer Nahostfriedensbemühungen symbolisch zunichte gemacht.
  • besorgt über die Zukunft des europäisch-arabischen Dialogs. Wir erleben bisher nicht gekanntes Entsetzen und Aufruhr in den Ländern der arabischen Welt. Viele unserer arabischen Counterparts, Kollegen und Freunde beklagen sich verbittert über die Doppelstandards in der Diskussion um Menschenrechte und Völkerrechtsprinzipien. Unter solchen Bedingungen betrachten wir es als sehr schwierig, über gemeinsame zivilisatorische Werte zu diskutieren oder für westliche Menschenrechtskonzepte und Modelle der Zivilgesellschaft zu werben.
  • weisen wir jede Art von Terror als Mittel zu Durchsetzung politischer Ziele zurück. Das gilt gleichermaßen für palästinensische Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten, wie für die Massaker an Palästinensern. Solch ein Vorgehen heizt die Spirale des Terrors nur noch weiter an.
Gewalt und Gegengewalt: Notwendigkeit der Ursachenbestimmung

Als noch während der ersten Intifada in Madrid die Nahostfriedenskonferenz stattfand und dann in den Osloer Verhandlungen den Palästinensern ein Staat in Aussicht gestellt wurde, schien die Hoffnung auf ein normales Leben und auf eine bessere Zukunft für die Kinder viele Wunden und durch die erste Intifada erlittene Traumata zu heilen, auch wenn Oslo hinter manchen Forderungen der Palästinenser zurückfiel. Selbst die meisten der ursprünglich aus dem heutigen Israel stammenden Flüchtlinge begannen sich damit abzufinden, dass ihre Zukunft in einem palästinensischen Staat in der Westbank und im Gazastreifen liegt. Das Recht auf Rückkehr wurde zu einem symbolischen Recht. Man sollte das an ihnen begangene Unrecht anerkennen und sie wenigstens entschädigen.

Aber Oslo führte nicht zum Frieden, sondern endete in der zweiten Intifada, in einer noch brutaleren Spirale aus Gewalt und Gegengewalt, aus Widerstand und Unterdrückung. Diese Gewaltspirale bedroht inzwischen die Existenz der palästinensischen wie der israelischen Gesellschaft. Noch schlimmer als Hoffnungslosigkeit sind verlorene Hoffnungen, und acht Jahre nach Oslo haben die Palästinenser alle Hoffnung verloren.
  1. Auf Grund der Osloer Vereinbarungen sollten die Palästinenser am 4. Mai 1999 einen unabhängigen Staat proklamieren. Aber auf israelischen Druck und Drängen westlicher Politiker musste Präsident Arafat die Proklamation des Staates zwei Mal auf inzwischen unbestimmte Zeit verschieben.
  2. Während des gesamten Oslo-Prozesses wurden die Verhandlungen um die eigentlichen Streitpunkte (die Flüchtlingsfrage, Jerusalem, die Siedlungen und die Grenzziehung) immer wieder hinausgezögert. Statt über die Umsetzung eindeutiger UN-Beschlüsse zu diskutieren, wurden die UN-Beschlüsse selber - unter Umgehung der UN - zum Verhandlungsgegenstand.
  3. Für die Besatzungsmacht bedeutete dies Zeitgewinn, um neue Realitäten zu schaffen: Die Westbank und der Gazastreifens wurden in sogenannte A-, B- und C-Zonen aufgeteilt. Die Demarkationslinien zwischen den Zonen werden seitdem von israelischen Soldaten kontrolliert, so dass der Zugriff des israelischen Militärs auf die Westbank und den Gazastreifen stärker wurde als vor Oslo. Der Großteil des in Oslo zur Debatte stehenden Gebietes befindet sich bis heute unter israelischer Verwaltung. Noch immer enteignet Israel in diesen Zonen Land, auf dem neue jüdische Siedlungen errichtet werden. Von 1991 bis 2000 stieg die Zahl der Siedler trotz des vereinbarten Siedlungsstopps von 91 000 auf 200 000. Übergriffe von fanatischen Siedlern auf Palästinenser häuften sich dadurch in einem erschreckenden Ausmaß. Die Westbank wurde in den 90er Jahren mit einem dichten Netz von unter israelischer Souveränität stehenden Straßentrassen überzogen, wodurch die räumliche Ausdehnung palästinensischer Städte und Dörfer unmöglich wird. Die Wirtschaft in den Besetzten Gebieten kam dadurch fast zum Erliegen.
Oslo diente - auch wenn es von den Initiatoren nicht so intendiert war - faktisch dazu, in den besetzten Gebieten eine Art Bantustanlösung vorzustrukturieren, während offiziell über eine palästinensische Souveränität verhandelt wurde. Für die Menschen, die in dieser Realität leben, machte das die Friedensgespräche zu einer Absurdität. Die Lebenssituation selber wurde zu einer "strukturellen Gewalt (Galtung)", die sich - nachdem Ariel Sharon im Oktober 2000 mit seinem provokativen Spaziergang über den Tempelberg das Ende des Friedensprozesses einleitete - in der zweiten Intifada entlud. Ohne Hoffnung auf eine Zukunft und mit dem Gefühl, dass die Opfer der ersten Intifada umsonst waren, sehen immer mehr inzwischen herangewachsene Kinder der ersten Intifada nur noch den Weg in den Tod: den eigenen und den des Gegners. Die Selbstmordattentate haben auch die Stimmung in Israel verhärtet und mit brutaler Gewalt deutlich gemacht, was Demonstrationen und UN-Resolutionen nicht vermochten: dass Israel eine Besatzungsmacht sind. Seitdem dreht sich die Spirale der Gewalt immer weiter und hat mit der militärischen Intervention, den Massakern von Ramallah und Jenin ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Unsere Verantwortung als Deutsche

Wir glauben, dass der Westen für die gegenwärtigen Entwicklungen mit verantwortlich ist. Gerade in der Bundesrepublik verzichten die meisten Politiker auf jede Kritik an Israel aus Angst, dass sie des Antisemitismus beschuldigt werden könnten. Unserer Meinung nach ist die kritiklose Vasallentreue Israel gegenüber eine versteckte Form des Antisemitismus und für das jüdische Volk schädlicher als jede wohlmeinende Kritik.

Das normale Leben in Israel ist zum Erliegen gekommen. Der Antisemitismus wächst. Das Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Bürgern Israels ist an einem Tiefpunkt angekommen. Der Staat Israel hat in den letzten Monaten mehr Menschenleben verloren als während der Libanoninvasion. All dies war als direkte Folge der expansionistischen und rassistischen Politik gegenüber den Palästinensern vorherzusehen.

Unsere historische Verantwortung als Deutsche gegenüber den Opfern des Holocausts darf nicht bei den Juden stehenbleiben, sondern muss die ganze Kausalkette von Ereignissen, die durch den Holocaust ausgelöst wurden, mit einschließen. Ohne den Holocaust hätte es den Staat Israel in seiner jetzigen Form wahrscheinlich nicht gegeben. Seit über 50 Jahren bezahlen mittelbar auch die Palästinenser einen hohen Preis für die historischen Spätfolgen des Nationalsozialismus.

Wenn wir als Deutsche wirklich Verantwortung tragen wollen, dürfen wir uns angesichts von Massenmord und Vertreibungen nicht Zurückhaltung auferlegen, sondern sollten unser gesamtes Gewicht in die Waagschale werfen, damit die Gewaltspirale durchbrochen wird und das Blutvergießen auf beiden Seiten aufhört. Das ist nur möglich, wenn die nationalen Rechte beider in Palästina lebender Völker eingelöst werden.

Wir fordern deswegen die Bundesregierung auf:
  • sich für einen sofortigen und umfassenden Rückzug der israelischen Armee aus den Besetzten Gebieten einzusetzen;
  • für die sofortige Freilassung aller während der Militärinvasion verhafteten palästinensischen Gefangenen einzutreten;
  • Menschenrechtsverletzungen in den von Israel Besetzten Gebieten sowie terroristische Akte gegen unschuldige israelische Zivilisten, die nicht in Zusammenhang mit dem Recht auf Selbstverteidigung stehen, aufs schärfste zu verurteilen - das Morden muß auf beiden Seiten aufhören und zwar sofort! Unsinniges Morden zieht unsinnige Rache nach sich!
  • für die schnellstmögliche Entsendung einer internationalen Schutztruppe und internationaler Beobachter unter Leitung der Vereinten Nationen einzutreten;
  • die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Dokumentation der durch den israelischen Einmarsch verursachten Verluste an Menschenleben und Zerstörungen zu unterstützen. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden!
  • in Abstimmung mit den europäischen Partnern eine aktive und unabhängige europäische Nahostpolitik einzuleiten, die sich konsequent und ohne Abstriche auf die Resolutionen der Vereinten Nationen (insbesondere die Resolutionen 242 und 338) und die Prinzipien des Völkerrechts stützt, da sich die USA durch die einseitige Unterstützung der israelischen Position als Vermittlungspartner unglaubwürdig gemacht haben.
  • unter der Federführung der UNO und in Kooperation mit den EU-Partnern eine Verhandlungsstrategie zu entwickeln, die eine klare und verbindliche Zeitvorgabe zur Realisierung der Ziele beinhaltet;
  • aktiv diejenigen israelischen Friedenskräfte zu unterstützen, die zu einem friedlichen Zusammenleben mit den Palästinensern auf der Basis der UN-Beschlüsse bereit sind;
  • finanzielle und logistische Unterstützung zum Wiederaufbau der zerstörten palästinensischen Infrastruktur bereitzustellen;
  • Sanktionsmaßnahmen gegen Israel zu verhängen (z.B. Verlust der mit der EU vereinbarten Handelsvergünstigungen), falls dessen Regierung sich weiterhin weigert, den UN-Beschlüssen bezüglich des Nahen Ostens Folge zu leisten;
  • klar zwischen Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und antisemitischen Äußerungen zu differenzieren und jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Gewaltverherrlichung zu verurteilen!


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