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Arabische Welt im Wandel

Hintergrund. Die Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten haben das politische Koordinatensystem der Region erschüttert. Ein Überblick

Von Karin Leukefeld *

Der Versuch fünf junger Männer, sich selbst zu erhängen, wurde von Umstehenden verhindert. Das berichteten arabische Medien Mitte September aus Kasserine, einer Provinz im Westen Tunesiens. Die Männer hatten sich für eine Stelle als Lehrer beworben, wurden aber abgelehnt, obwohl sie alle notwendigen Voraussetzungen mitbrachten. Es war die erste Ausschreibung für ausgebildete Lehrer, seit im Januar die tunesische Revolution den früheren Machthaber Zine El Abidine Ben Ali davongejagt hatte.

Nach ihrer erneuten Ablehnung begannen sie zunächst einen Sitzstreik, um gegen die Diskriminierung ihrer Region bei der Auswahl von staatlichen Beamten zu protestieren. Weil sie keine Beachtung fanden, bestiegen sie schließlich eine Art Schafott, das sie vor der örtlichen Niederlassung des Bildungsministeriums errichtet hatten. Sie legten sich den Strick um den Hals und sprangen. Alle fünf wurden von Passanten gerettet und umgehend ins Krankenhaus gebracht, sie überlebten.

Von Tunesien …

Auf die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 hatten die Tunesier empört reagiert und sich erhoben. Sie stürzten Präsident Ben Ali am 14. Januar und beflügelten so weitere Proteste und Aufstände in der arabischen Welt. Bouazizi erlag am 4. Januar 2011 seinen Verletzungen, sein Suizid wurde zum Fanal.

Doch die Ungleichheit in Tunesien ist geblieben. Die Menschen hatten große Hoffnungen auf den politischen Neuanfang gesetzt. Das Militär hielt sich zurück, alte Parteien und Seilschaften wurden entmachtet, Hunderte im Exil lebende politische Aktivsten, Schriftsteller und Journalisten kehrten zurück. Parteien wurden gegründet, neue Gesetze verabschiedet, die nach einigen Tumulten ernannte Übergangsregierung bereitet für den 23. Oktober die ersten »freien« Parlamentswahlen vor.

Doch die Lebensbedingungen in Tunesien haben sich weiter verschlechtert. Tausende Menschen flohen in Richtung Europa. Sprach man im März noch von etwa 6000 tunesischen Flüchtlingen, ist die Zahl der Flüchtlinge aus ganz Nordafrika allein auf der italienischen Insel Lampedusa inzwischen auf 48000 gestiegen. Gleichzeitig kamen aber auch Menschen nach Tunesien. Der UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) hatte in seiner Januarstatistik knapp 3000 Flüchtlinge im Land notiert, mit Beginn des Krieges im Nachbarland Libyen stieg diese Zahl auf 335000 Menschen (Juli 2011), die in Tunesien Sicherheit suchten.

Lag die Arbeitslosigkeit Ende 2010 offiziell noch bei 14 Prozent, waren es im Juli 19 Prozent. Die Mehrheit der rund elf Millionen Tunesier ist jünger als 30 Jahre. Lokalen Analysen zufolge soll für den Anstieg der Erwerbslosigkeit die hohe Zahl von Studienanfängern verantwortlich sein, im Juli drängten 80000 Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt. Hinzu kämen rund 30000 Tunesier, die zuvor in Libyen gearbeitet hatten. Die UNO gibt die Zahl der aus Libyen geflohenen Tunesier mit 68000 (7/2011) an. Versuche der Übergangsregierung, neue Arbeitsplätze zu schaffen, schlugen fehl. Offiziellen Zahlen zufolge gingen 10000 Arbeitsplätze verloren, 80000 weitere sind bedroht. Als Mitte August Tausende Menschen gegen mangelnde Fortschritte bei den angekündigten Reformen, Korruption in Politik und Rechtsprechung und gegen die zunehmende Arbeitslosigkeit protestierten, feuerte die Polizei in die Menge. Zu Auseinandersetzungen kam es vor allem mit dem von der Jugendbewegung organisierten Protestmarsch in der Hauptstadt Tunis. Der geplante Weg zum Innenministerium war von Polizeikräften blockiert worden.

Die Oppositionsbewegung im Land ist sehr vielfältig. Aus dem Exil zurückkehrende Aktivsten und Politiker sehen sich einer jungen, undogmatischen Bewegung gegenüber, traditionalistischen Gewerkschaften wird ihre angebliche Nähe zum früheren Regime vorgeworfen. Figuren des alten Machtapparats versuchen in neuen Parteien wieder an die Macht zu kommen, und es gibt ein starkes Stadt-Land-Gefälle. Besonders schwer zu kitten ist der Riß zwischen den religiösen und säkularen Kräften. Innerhalb der religiösen Kräfte gibt es dogmatische, wie die sunnitischen Salafisten und eher moderate oder sich moderat gebende, wie die An-Nahda-Partei, die der Muslimbruderschaft zuzurechnen ist. Je selbstbewußter und organisierter islamische Kräfte auftreten, desto mehr Konflikte sind mit den modern orientierten Tunesiern programmiert. Ob man fastet, Alkohol trinkt oder in die Moschee geht, müsse eine private Entscheidung sein und bleiben, lautet das eine Argument. Andererseits profitieren viele, vor allem junge Leute aus armen Familien, von der Unterstützung islamischer Gruppen, die in der sozialen Frage nicht nur reden, sondern konkrete Taten vorweisen können.

... und Ägypten ...

In Ägypten lebt mehr als die Hälfte der 80 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze (1,50 US-Dollar/Tag). Hierher war der revolutionäre Funken aus Tunesien als erstes übergesprungen. In nur knapp drei Wochen stürzte eine kraftvolle Protestbewegung den langjährigen Machthaber Hosni Mubarak mitsamt seiner Nationaldemokratischen Partei (PND).

Schlagzeilen der unabhängigen ägyptischen Tageszeitung Al Masri al Youm vom 20. September 2011 geben einen Überblick über die Konflikte, mit denen das Land derzeit zu kämpfen hat: »Regierung restrukturiert die Bankenvorstände; Kopten überprüfen Scheidungsrecht; Wohnungsministerium untersucht Eigentum der Führer der 6.-April-Bewegung; Landesweiter Lehrerstreik dauert den fünften Tag in Folge; Salafisten bilden ein Bündnis mit radikalen islamischen Parteien; Parteien und Militärrat in einer Sackgasse wegen der Wahlen.« Seit Beginn des Krieges in Libyen hat Ägypten 211000 Flüchtlinge aus dem Nachbarland aufgenommen (UN 7/2011), 112000 dieser Menschen sind Ägypter, die zuvor in Libyen in Lohn und Brot gestanden hatten und Angehörige in Ägypten miternähren konnten.

Anders als in Tunesien übernahm ein Militärrat die Macht, Vorsitzender ist der langjährige Verteidigungsminister und Vertraute Mubaraks, Generalfeldmarschall Mohammed Hussein Tantawi. Nur scheibchenweise wurde Reformen zugestimmt, was die Oppositionsbewegung vom Tahrir-Platz inzwischen wieder fast jeden Freitag auf die Straße treibt. Die Militärführung, die während der Proteste noch bejubelt worden war, weil sie sich für den Schutz der Demonstranten eingesetzt hatte, ist nun selber Zielscheibe von Kritik. Man wirft ihr die Gängelung ziviler Kräfte in der Politik vor und den Versuch, nach dem Vorbild des Militärs in der Türkei ihre Rolle als »Hüterin der Verfassung« konstitutionell verankern zu wollen. Mit einer »Erklärung grundlegender Prinzipien« will das Militär zum Beispiel seine weitreichenden Wirtschaftsinteressen sichern und den Verteidigungsetat der öffentlichen Kontrolle entziehen.

Alte wie neue Parteien und Kandidaten befinden sich zu fast allem, was die politische Zukunft des Landes betrifft im Clinch mit dem Militärrat. Ganz aktuell betrifft das die Frage, ob der Ausnahmezustand noch in Kraft ist oder nicht. Konflikte gibt es über den Umgang mit der Verfassung, die Rolle und Zusammenstellung der Übergangsregierung, das Wahlgesetz und die Wahlen, deren erste Runde vom Militärrat nun auf den 21. November festgelegt wurde. Von rund 80 Millionen Ägyptern sind voraussichtlich 50 Millionen wahlberechtigt.

Bekannte Politiker wie der ehemalige Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, oder Mohamed El Baradei, der frühere Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, haben ihre Kandidatur zum Präsidentschaftsamt angekündigt. Hamdeen Sabbahi, der Vorsitzende der nasseristischen Partei Al Karama, bewirbt sich ebenfalls für das Präsidentschaftsamt. Sabbahi hat für den Fall seiner Wahl einen klaren Kurswechsel vorgegeben: »Ich werde die Hamas und Hisbollah unterstützen«, sagte er Journalisten. Das Schicksal des Friedensvertrages mit Tel Aviv müsse vom ägyptischen Volk neu festgelegt werden, außerdem werde er sich dafür einsetzen, daß kein Gas mehr nach Israel exportiert werde. Er werde Armut und Korruption bekämpfen und dafür sorgen, daß aus Ägypten kein religiöser Gottesstaat werde, sondern das Land seinen zivilen, säkularen Charakter behalte. Wie in Tunesien gehören auch in Ägypten die religiösen islamischen Parteien zu den Gewinnern des Umsturzes, vor allem die Muslimbruderschaft, die sich nun mit ihrer neu gegründeten »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« legalisiert hat.

... bis Bahrain und Jemen

Unmittelbar nach den Protesten in Tunesien und Ägypten begannen auch in anderen arabischen Staaten Proteste gegen Arbeitslosigkeit, Verteuerung der Lebenshaltungskosten und mangelnde politische Teilhabe. In Oman, Kuwait, im Irak und Jordanien, auch in Saudi-Arabien wurden die Aufstände niedergeschlagen und verschwanden mangels Berichterstattung internationaler Medien bald aus der Öffentlichkeit. In Kuwait, Oman und Saudi-Arabien wurde den Menschen Geld angeboten, um ihre Kosten zu decken. Im Libanon gingen die Menschen für eine Trennung von politischer Macht und Religion auf die Straßen, in Marokko und Algerien, wo es Anfang des Jahres ebenfalls Demonstrationen gegeben hatte, führten Repression und rasche Verfassungsänderungen dazu, daß die Proteste zwar wiederholt aufflammten, doch keine größeren Ausmaße annahmen.

In Bahrain wurden Proteste mit militärischer Hilfe der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens blutig niedergeschlagen, internationalen Widerspruch dagegen gab es nur vereinzelt. Im Jemen, dem Armenhaus der arabischen Halbinsel, gehen seit Februar Hunderttausende gegen die 33jährige Herrschaft von Präsident Ali Abdullah Saleh auf die Straßen, bisher ohne Erfolg. Nach einem Anschlag mußte Saleh Anfang Juni schwer verletzt nach Saudi-Arabien ausgeflogen werden, nun kehrte er zurück und befehligt seine Republikanischen Garden, die allein in den letzten Tagen Dutzende Demonstranten getötet haben.

Für die USA, den Golfkooperationsrat (Vereinigte Arabische Emirate, Kuwait, Katar, Saudi-Arabien, Bahrain, Oman), darin vor allem für Saudi-Arabien sowie für die westlichen US-Verbündeten, die sich im »Freundeskreis Jemen« zusammengeschlossen haben, gilt Präsident Saleh als strategisch wichtiger Verbündeter im »Kampf gegen den Terrorismus« – Militär- und Wirtschaftshilfe inklusive. Offenbar hat der Westen noch keinen zuverlässigen Nachfolger gefunden; das Land scheint in einen Bürgerkrieg abzugleiten. Die Bevölkerung von 24 Millionen Menschen ist verarmt, viele leiden unter Mangel- oder Unterernährung. Jährlich landen bis zu 60000 Flüchtlinge aus den Hungergebieten Ostafrikas an der südjemenitischen Küste. Das an Öl und Wasser arme Land wird von Saudi-Arabien als »Hinterhof« betrachtet. Zwischen Rotem und Arabischem Meer am Golf von Aden ist der Jemen zu einer strategisch wichtigen Militärbastion westlicher Interessen verkommen.

»Irakisches Beispiel«

Bürgerkrieg und Gewalt gibt es in Libyen. An die Stelle der Protestbewegung, die am 17. Februar eine Demonstration in Bengasi organisierte, um Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen von fast 1000 Gefangenen zu fordern, die 1996 im Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis getötet worden waren, trat eine vom Westen finanzierte und ausgebildete »Rebellenarmee«. Mit Hilfe einer UN-Sicherheitsratsresolution zur Durchsetzung einer Flugverbotszone (UNSR-Resolution 1973, 17.3.2011) wurde die gewaltige Feuerkraft der NATO entfesselt, auch wenn viele Staaten des Bündnisses sich gar nicht oder nur zögerlich beteiligten. 23000 Lufteinsätze haben NATO-Kampfjets seitdem über Libyen geflogen, die Rebellen haben inzwischen die Hauptstadt Tripolis eingenommen. Die USA, Großbritannien, Frankreich und Katar setzten zum Sturz Ghaddafis nicht nur Geld und Waffen, sondern auch Truppen vor Ort ein. Der irakische Außenminister Hosjar Zebari sagte vor wenigen Tagen vor dem US-Parlamentsausschuß für Auswärtige Politik, es habe »nicht nur Luftangriffe« gegeben, sondern auch »europäische Sondereinheiten, die auf dem Boden gegen Ghaddafi gekämpft haben«. Das »irakische Beispiel« habe die Aufstände in Libyen und anderen arabischen Staaten inspiriert, so Zebari. »Die Libyer, die Tunesier, die Ägypter haben uns um Rat gefragt, wie wir es gemacht haben.« Die irakische Opposition war vor der US-Invasion 2003 vom britischen Geheimdienst MI6 und der US-amerikanischen CIA zu einem Nationalkongreß (INC) zusammengefaßt und finanziert worden. Kurdische Peschmerga waren ebenso wie Milizen anderer INC-Gruppen bewaffnet und militärisch ausgebildet worden. Bei der völkerrechtswidrigen Invasion des Irak 2003 kämpften sie an der Seite der von den USA geführten Invasionstruppen.

Die Beute wird verteilt

Obwohl es weder eine libysche Übergangsregierung noch einen Termin für Neuwahlen gibt, erhielt der Nationale Übergangsrat mittlerweile Zugriff auf einen Großteil der zuvor eingefrorenen staatlichen Gelder und hat den Sitz Libyens sowohl in der Arabischen Liga als auch in der UN-Vollversammlung eingenommen. Frankreich und Großbritannien, die mit aller Macht die militärische Initiative vorantrieben, erhielten die Zusage des Übergangsrates, die libyschen Ölquellen ausbeuten zu dürfen. Libyen ist das ölreichste Land Afrikas und liegt mit 46,4 Milliarden Barrel Ölreserven und 55 Trillionen Kubikmeter Gas weltweit auf Platz 17.

Im Interview mit dem Handelsblatt sagte Christophe de Margerie, Chef des französischen Ölkonzerns Total, man sei »schon im Land« und gehe davon aus, daß Fördereinrichtungen nicht beschädigt worden seien. Man wolle »das Geschäft mit Flüssiggas entwickeln« und helfen, »Öl- und Gasreserven aggressiver und strukturierter zu erschließen«. Unter Ghaddafi sei »ein Großteil der Reserven dem Zugriff ausländischer Gesellschaften entzogen« gewesen, so Margerie. Auch der italienische Ölkonzern ENI hat Zusagen erhalten. Seit März starben dafür mindestens 25000 Menschen, zivile Infrastruktur wurde zerbombt, fast eine Million (993000) Menschen wurde vertrieben, 218000 gelten innerhalb Libyens als Inlandsvertriebene.

Die Außenminister der G-8-Staaten (Deutschland, USA, Japan, Großbritannien, Kanada, Frankreich, Italien und Rußland) trafen sich am Rande der UN-Vollversammlung, um über die Zukunft Libyens und der anderen Staaten des ›Arabischen Frühlings‹ zu sprechen.

Rund 80 Milliarden US-Dollar sollen in den kommenden Jahren an Ägypten, Jordanien, Tunesien und Marokko und alle Staaten fließen, die sich »ihrer autoritären Herrscher entledigen«, hieß es. Damit wurden die Zuwendungen, die im Mai bei einem G-8-Treffen im französischen Badeort Deauville zugesagt worden waren, verdoppelt. Die vereinbarte Partnerschaft bringt die G-8-Staaten mit Tunesien, Ägypten, Marokko, Jordanien und Libyen zusammen. Auch die reichen Golfstaaten Saudi-Arabien und Katar sowie die Türkei sind dabei. UNO, Weltbank, der Internationale und der Arabische Währungsfonds runden die Partnerschaft finanziell ab. Der Arabische Frühling sei eine »Quelle großer Hoffnung«, hieß es nach dem G-8-Treffen in New York. Sowohl die politische als auch die ökonomische Herausforderung erfordere rasches Handeln.

Die »Quelle großer Hoffnung« dürften vor allem die Rohstoffe Libyens und weiterer afrikanischer Staaten sein, die vereinbarte strategische Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Staaten gegen die Flüchtlinge aus Afrika, im Kampf gegen Al-Qaida und neue Absatzmärkte nicht zuletzt für die Rüstungsindustrie. Die Türkei, China und Rußland, die den Krieg gegen Libyen ablehnten, sind nun bei der Beuteverteilung dabei, um ihre hohen Investitionen nicht zu verlieren. Die ehemaligen Kolonialstaaten aber haben die Nase vorn. 70 Jahre lang war Großbritannien Kolonialmacht in Ägypten, von wo es weiter in den Sudan vordrang. Die französische Kolonialmacht hat blutige Spuren in Algerien, Tschad, Niger und Tunesien hinterlassen. Allein in Algerien sollen bis zu 1,5 Millionen Menschen im Kampf gegen die französischen Besatzer getötet worden sein. Von 1910 bis 1947 war Libyen Kolonie Italiens. In den 1930er Jahren sollen bis zu 100000 Menschen vom faschistischen Italien in Konzentrationslagern kaserniert worden sein, Zehntausende überlebten das nicht.

»Strategische Katastrophe«

Wie der Arabische Frühling für Israel ausgehen wird, und ob es seinen wichtigsten Bündnispartner in der Region, Ägypten, verliert, ist noch nicht ausgemacht. Zwar war eine der ersten Erklärungen, die der Militärrat in Kairo nach dem Abtritt von Mubarak machte, die Versicherung, man werde sich an den Friedensvertrag mit Israel halten. Doch nach den bisher ungeklärten blutigen Ereignissen auf der Sinai-Halbinsel, bei denen israelische Sicherheitskräfte nach dem Angriff auf einen israelischen Bus fünf ägyptische Grenzposten erschossen, sind die Beziehungen angespannt. Eine Vereinbarung, wonach Ägypten offenbar weit unter Marktpreis Gas nach Israel liefert, wird offen in Frage gestellt. Seit Februar wurde die Pipeline, die das Gas liefert, viermal in die Luft gesprengt. Die Proteste an der israelischen Botschaft, die mit dem Abzug des Botschaftspersonals kürzlich einen Höhepunkt fanden, machen deutlich, daß die Ägypter nicht nur aus Zorn über die eigene soziale Lage, sondern auch über die strategische Einbindung ihres Landes zum Schutze Israels erst gegen Mubarak und nun gegen den Militärrat protestieren.

Das Friedensabkommen sei für Israel sehr viel wichtiger als für Ägypten, meinte kürzlich der frühere israelische Arbeitsminister und General Ephraim Sneh. Auch wenn man in Tel Aviv kaum darüber offen spricht, hält man die zunehmend antiisraelischen Proteste im Nachbarland für eine »strategische Katastrophe«, analysiert die Wochenzeitung Al Ahram aus Kairo. Zumal die israelische Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu mit der Türkei bereits einen anderen wichtigen Verbündeten vergrault hat. Akiva Eldar kommentierte in der israelischen Tageszeitung Haaretz, die beschädigten israelisch-ägyptischen Beziehungen seien letztlich das Resultat der festgefahrenen Verhandlungen mit den Palästinensern. Ministerpräsident Netanjahu täusche sich, wenn er meine, die fortgesetzte Besiedelung und Besatzung palästinensischen Bodens könne dem Ansehen Israel nicht schaden. Die Geschichte habe gezeigt, daß die Beziehungen zwischen Israel und den arabischen und islamischen Staaten nur dann Fortschritte machten, wenn es Verhandlungen mit den Palästinensern gab.

Intervention in Syrien?

Unklar bleibt, was aus Syrien wird. Dort begannen Mitte März Proteste gegen die Regierung von Präsident Baschar Al-Assad, die dieser mit einer Fülle von Gesetzesänderungen und Reformen vergeblich zu beruhigen versuchte. Mittlerweile findet ein blutiger Konflikt statt, bei dem bewaffnete Kräfte, die weniger Reformen als vermutlich religiöse Ziele, auf jeden Fall aber den Sturz des Regimes verfolgen, von staatlichen Sicherheitskräften bekämpft werden. Der friedlichen Protestbewegung im Land ist es bisher kaum gelungen, sich zu vernetzen und eigene politische Forderungen zu formulieren. Die Einladung des Staates zum nationalen Dialog wird nur von wenigen Oppositionellen angenommen, die meisten wollen ein Ende der Gewalt, bevor sie sich mit Regierungsvertretern an einen Tisch setzen. Ihre Absage an jede Einmischung von außen wird im Ausland kaum gehört. Durch westliche Leitmedien werden Parolen und Forderungen transportiert, die in Thinktanks und Nachrichtenschmieden von Exilsyrern entstehen und – wie die mitgelieferten Video- und Handyaufnahmen belegen sollen – von Syrern angeblich massenweise unterstützt werden. Mehrfach fanden sich Exilsyrer zur Bildung nationaler Übergangsräte zusammen, forderten eine UN-Resolution zum Schutz der Bevölkerung, den Ausschluß des Landes aus der Arabischen Liga und der UNO bis hin zur militärischen Intervention und der Bewaffnung der syrischen Opposition. Ähnlichkeiten mit Libyen sind dabei ausdrücklich gewollt. Äußerungen von Politikern in den USA und Europa lassen den Schluß zu, daß der Konflikt geschürt wird, um Präsident Assad – dessen Bündnis mit den »Kräften des Widerstandes« in der Region, Hisbollah, Hamas und Iran, westliche Interessen schon lange stört – zu stürzen. Rußland, China und andere Staaten im UN-Sicherheitsrat warnen vor einer Entwicklung wie in Libyen und bieten Vermittlung an.

Die Türkei, in den letzten Jahren trotz NATO-Mitgliedschaft enger politischer und wirtschaftlicher Partner Syriens, scheint sich nun zum Schiedsrichter aufzuschwingen oder erhoben zu werden. Ministerpräsident Tayyib Erdogan, dessen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) auch zur Muslimbruderschaft gehört, hat seit Beginn der Proteste im März deutlich gemacht, daß Assad der im säkularen Syrien verbotenen Muslimbruderschaft mehr Rechte und politische Teilhabe einräumen müsse. Rückenwind erhält Erdogan durch die Diskussion über das »Türkische Modell«, wonach ein moderner, wirtschaftlich orientierter islamischer Staat auch in Tunesien und Ägypten von Parteien der Muslimbruderschaft eingeführt werden könnte. Die USA und Europa haben bereits Beziehungen und Gespräche mit ihren möglichen neuen islamischen Partnern der Muslimbruderschaft eingeräumt. Auch für Syrien scheint Erdogan dieses Ziel zu verfolgen und einigte sich zu Beginn der UN-Vollversammlung mit US-Präsident Barack Obama darauf, »den Druck auf Syrien zu erhöhen«, wie das Weiße Haus ohne weitere Details mitteilte. Unbestätigten Berichten zufolge sollen die Türkei und die NATO bereits einen Interventionsplan entworfen haben. In Washington bereitet man sich derweil auf einen syrischen Bürgerkrieg zwischen Aleviten, Drusen, Christen und Sunniten vor, wie amerikanische Medien berichten. Die Sunniten bewaffnen sich, sagte Vali Nasr, ein ehemaliger Mitarbeiter Obamas. US-Botschafter Robert Ford werde in Damaskus bleiben, heißt es aus dem Weißen Haus. Seine Aufgabe sei, den Kontakt mit Oppositionsführern und den verschiedenen Religionsgemeinschaften zu halten.

* Karin Leukefeld ist freie Journalistin und berichtet regelmäßig für junge Welt aus dem Nahen und Mittleren Osten

Aus: junge Welt, 27. September 2011



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