Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Volk muss Führung vertrauen"

Interview mit Prof. Dr. Werner Ruf zum Umbruch in Arabien (aus der Internetausgabe der Hessischen Allgemeinen) *

Von Detlef Sieloff

In mehreren afrikanischen Ländern gibt es handlungsunfähige Regierungen. Über die Lage und die Gefahren von Staaten ohne Kontrolle und die Auswirkungen auf den Umbruch in Arabien sprachen wir mit dem Politikwissenschaftler Werner Ruf.

Wir im Westen freuen uns über den Aufbruch zu mehr Demokratie in Nordafrika und Arabien. Aber brechen mit den Diktaturen nicht auch die alten Ordnungsfaktoren in diesen Staaten weg?

Prof. Werner Ruf: Das ist sicher so. Wobei wir uns fragen müssen, ob wir nicht Mitschuld tragen, indem wir zu lange Regime gestützt haben, die ihre Macht auf Repression gründeten. Die Zivilgesellschaft dagegen wurde vernachlässigt, was zu einem großen Vakuum geführt hat.

Derzeit wird über die „failed states“, die gescheiterten Staaten, als Gefahr für die Welt diskutiert. Wodurch ist die Auflösung einer staatlichen Ordnung konkret gekennzeichnet?

Ruf: Zum einen kann der Staat nicht mehr das Gewaltmonopol durchsetzen. Der Staat kann also die Sicherheit seiner Bürger nicht mehr gewährleisten. Sicherheit ist aber mehr als Polizei: Sicherheit ist auch das Vorhandensein einer Infrastruktur zur Strom- und Wasserversorgung, Sicherheit ist die Verfügbarkeit einer Schulbildung und eines Gesundheitswesens sowie die Verlässlichkeit rechtstaatlicher Verhältnisse. Wenn das alles nicht gegeben ist, dann ist der Staat nicht mehr funktionsfähig - er wäre gescheitert.

Welche historischen und politischen Ursachen führen dazu, dass sich eine staatliche Ordnung in einem Land auflöst?

Ruf: Eine der Ursachen liegt bereits im Kolonialismus, wo man - speziell in Afrika - Territorien ohne Rücksicht auf Stammesstrukturen, Sprachgrenzen oder religiöse Unterschiede zugeschnitten hat. Außerdem hat man die Kolonien nach den Bedürfnissen der Mutterländer ausgerichtet und sie zu Rohstofflieferantenten gemacht. Mit der politischen Unabhängigkeit hat sich an dieser Außenorientierung der Ökonomien nichts geändert, so dass diese Staaten abhängig blieben - abhängig auch von den Preisen dieser Rohstoffe auf dem Weltmarkt.

Als Beispiel eines gescheiterten Staates gilt Somalia am Horn von Afrika. In welchen Staaten, die derzeit im Umbruch sind, könnte eine ähnliche Entwicklung drohen?

Ruf: Libyen oder Jemen wären denkbare Kandidaten. Libyen beispielsweise besteht aus drei Stammeskonföderationen. Es ist also nicht auszuschließen, dass dieses Land in zwei oder drei Teile zerfällt - was aber nicht heißen muss, dass diese neuen Staaten keine staatliche Strukturen aufbauen könnten. Anders sieht das in Staaten wie der Elfenbeinküste, wo ein Bürgerkrieg tobt, oder in der Demokratischen Republik Kongo aus. Gerade im Kongo gibt es keine Ordnungsmacht, die in der Lage wäre, auch nur einigermaßen das Staatsgebiet zu kontrollieren und zu sichern. Stattdessen operieren dort Söldnertruppen, die die dort vorkommenden Rohstoffe - etwa für die Handyherstellung - für die westlichen Konzerne sichern.

Besteht nicht die Gefahr, dass terroristische Kräfte in dieses Machtvakuum stoßen?

Ruf: Das ist die große alte Mär des Westens, die schreckliche Gefahr des Terrors. Die Menschen, die sich gerade von der Diktatur befreien, wollen aber nicht in eine neue Abhängigkeit geraten. Das haben die Entwicklungen in Ägypten und Tunesien gezeigt. Also, da bin ich relativ optimistisch.

Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass das Militär unter Hinweis auf die Zerfallsprozesse sich zur neuen Ordnungsmacht aufschwingt und erneut den Weg zu demokratischen Reformen blockiert?

Ruf: Das ist ja genau das, was der Westen jahrzehntelang betrieben hat. Die fürchterlichsten Militärdiktaturen - siehe Ägypten, siehe Algerien - wurden an der Macht gehalten. Doch dieser Weg führt in die Sackgasse, und mir scheint, dass die USA das sehr wohl erkannt haben. Sie sagen jetzt: Wir wollen diese Demokratisierungsprozesse, wir wollen legitime Regierungen, wir wollen Pluralismus. Diese Staaten können nur wieder funktionieren, wenn die Führung das Vertrauen der Bevölkerung hat und gegebenenfalls durch demokratische Prozesse auch austauschbar ist.

Könnte das deutsche Grundgesetz die Blaupause für die neue demokratische Ordnung in diesen Staaten sein?

Ruf: Ich finde unser Grundgesetz wesentlich besser als die Präsidialdemokratien, wie wir sie in Frankreich oder Italien haben. In Tunesien etwa wird derzeit über eine parlamentische Demokratie beraten, gerade weil sie eine Alternative zu den bisherigen leidvollen Erfahrungen mit den Präsidentialregimen darstellt. Aber das müssen die Menschen letztlich selbst entscheiden. Grundlage der neuen Staatlichkeit muss aber ein Rechtstaat mit einer klaren Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative sein.

Hintergrund "Gescheiterte Staaten als Gefahr"

Ein Staat ohne Kontrolle, Recht und Ordnung wird als „failed state“ bezeichnet. Zu den Merkmalen eines solchen „gescheiterten Staates“ gehört eine handlungsunfähige Regierung, welche die Sicherheit der Bevölkerung nicht mehr gewährleisten kann. Auch die internationale Gemeinschaft sieht sich von solchen Staaten bedroht. Somalia gilt als krasses Beispiel eines gescheiterten Staates. Jetzt warnt US-Außenministerin Hillary Clinton, Libyen könnte zu einem „gigantischen Somalia“ werden. Auf dem „Failed States Index 2010“ der US-Organisation „The Fund for Peace“ steht das afrikanische Land auf Platz Eins.

Somalia ist vom Bürgerkrieg zerstört, eine staatliche Ordnung gibt es nicht. Danach folgen der Tschad, Sudan, Simbabwe, die Demokratische Republik Kongo, Afghanistan und der Irak. Pakistan steht auf Platz 10. Für ihre Einordnung bewertet die Organisation die soziale, wirtschaftliche und politische Situation. Staatengemeinschaften wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen sehen unsichere und gescheiterte Staaten als Sicherheitsrisiko.

Die Terroranschläge auf die USA am 11. September 2001 haben gezeigt, welche Bedrohung von Ländern ausgehen kann, in denen Terroristen ungestört Ausbildungslager errichten können.



Zur Person
Prof. Dr. Werner Ruf (73), geboren in Sigmaringen, studierte unter anderem Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Freiburg, Paris, Saarbrücken und Tunis. Von 1982 bis 2003 lehrte er internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Zum Thema erschien von ihm: Werner Ruf (Hrsg.): „Politische Ökonomie der Gewalt: Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg“. Opladen, Leske + Budrich 2003. Werner Ruf lebt in Edermünde.


* Dieses Interview erschien - gekürzt - in der Printausgabe der HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine) vom 11. März 2011; die von uns dokumentierte Langfassung befindet sich in der Online-Ausgabe der Zeitung: www.hna.de/politik


Zurück zur Nahost-Seite

Zur Seite "Failed states, gescheiterte Staaten"

Back to the Homepage