Die Siedlungen sind das Problem
Wie kann ein gerechter Frieden im Nahen Osten erreicht werden, wenn die Schlüsselfrage nicht gelöst wird?
Seit dem 28. September 2000 erleben wir im Nahen Osten eine Neuauflage der Intifada. Zu lange wurden die Palästinenser hingehalten, zu sehr wurden sie gedemütigt und zu selbstsicher hatten sich die Israelis hinter ihrer militärischen Übermacht und der unverhohlenen Unterstützung der Supermacht USA verschanzt! Das Abkommen von Oslo (1993) sah für Gaza und das Westjordanland eine Übergangsperiode von fünf Jahren vor. Diese Frist sollte am 4. Mai 1999 enden. Dieser Termin ist genauso verstrichen wie weitere Termine, die Arafat zur Proklamation eines eigenen Palästinenserstaates angekündigt hatte.
Die Konfliktlage im Nahen Osten ist komplex: Da sind z.B. die Flüchtlinge, die ein Rückkehrrecht (nach Israel!) für sich reklamieren. Da ist die Jerusalemfrage - hochbrisant, weil hier auch politische Symbolik eine große Rolle spielt. Da muss die Frage eines getrennten, aber zusammengehörigen palästinensischen Staatsgebiets gelöst werden. Da gehört auch das Problem der besetzten Golanhöhen dazu, wodurch eigentlich Syrien mit ins diplomatische Spiel gebracht werden müsste. Da gibt es massenhaft wirtschaftliche Probleme. Und schließlich ist da die Frage der Siedlungen, jener israelischen Festungen inmitten eines zukünftigen Palästinenserstaates, die von den einen als Gewohnheitsrecht verteidigt und von den anderen als unrechtmäßiger Raub an palästinensichem Boden gebrandmarkt werden. Diese letzte Frage wird im nachfolgenden Beitrag in den Mittelpunkt gerückt. Wir haben ihn der Dezemberausgabe von Le monde diplomatique entnommen. Er erschien dort unter dem Titel "Die Siedlungen stehen im Zentrum der Auseinandersetzungen. Intifada für einen echten Frieden". Sein Verfasser ist Alain Gresh. Der Beitrag wurde von uns leicht gekürzt. Auch haben wir auf die Fußnoten verzichtet.
...
Die Spielregeln der Verhandlungen .. sind einseitig
verzerrt: Israel weigert sich, die Resolution 242 des
UN-Sicherheitsrates anzuerkennen, die den Rückzug aus allen
besetzten Gebieten vorsieht. Und die USA, die sich noch nie an
ihre Rolle eines "unparteiischen Vermittlers" gehalten haben,
raten den Palästinensern, die israelischen Vorschläge
anzunehmen. Was man braucht, ist ein neuer (auf dem
Völkerrecht und den Resolutionen des Sicherheitsrates
basierender) rechtlicher Rahmen, einen, der eine Erweiterung
der Verhandlungspartner vorsieht: neben den USA sollte die
UNO, die Europäische Union oder auch Russland künftig
mitwirken. Nur auf dieser Grundlage ist ein wirklicher Friede
möglich.
Die Entwicklung war abzusehen. Bereits am 15. Mai 2000, dem
Tag des Gedenkens an die Katastrophe (an-Nachba), die das
palästinensische Volk 1948-1949 erlebte, hatten sich tausende
Palästinenser zur Belagerung von Netsarim im Gasastreifen und
ebenso von Negohot, Beit El und Pesagot im Westjordanland
eingefunden. Diese jüdischen Siedlungen, mitten im palästinensischen
Territorium, stehen für das, was die Palästinenser zur Verzweiflung
bringt: jeden Tag verzehren diese Siedlungen ein weiteres Stück
ihres Landes. Und ihr "Schutz" erfordert dann tausende israelischer
Soldaten, unzählige "Kontrollpunkte", an denen die Palästinenser
jede Art von Erniedrigung erfahren, den Bau von
"Umgehungsstraßen", die für die Siedler reserviert sind. Allein die
Existenz solcher Siedlungen macht die Idee von einem unabhängigen
und lebensfähigen Staat Palästina zur Illusion.
Wie alle seine Vorgänger hatte der israelische Ministerpräsident
Barak zur selben Zeit, da er sich zum Abschluss eines dauerhaften
Friedensabkommens mit den Palästinensern bereit erklärte, den Bau
neuer Wohneinheiten genehmigt: Im Haushaltsplan für 2001 sind
500 Millionen Dollar für die Siedlungen vorgesehen. Noch Mitte
Mai 2000 versprach das Wohnungsbauministerium allen Israelis, die
sich in der Siedlung Ariel niederlassen wollten,
Sondervergünstigungen. Eine Werbebroschüre pries das
"interessante Angebot" mit den Worten: "Mit einer Anzahlung von
nur 4 600 Dollar können Sie Ihre Wohnung beziehen, die
monatliche Kreditrückzahlung beträgt nur 390 Dollar."
Da diese Siedlungen allesamt in Gebieten liegen, die unter
palästinensische Verwaltung fallen, werden sie im Rahmen der neuen
Intifada zu kompakten, besonders unerbittlich umkämpften
Konfliktzonen. Denn die wichtigste Botschaft der Aufständischen
lautet eindeutig: Israel muss sich entscheiden zwischen dem Frieden
und den Siedlungen. Und nach den Statuten des Internationalen
Strafgerichtshofs, die im Juli 1998 in Rom beschlossen wurden, stellt
diese Siedlungstätigkeit ein "Kriegsverbrechen" dar. So gesehen
kann die Erhebung der Palästinenser bereits einen ersten Erfolg
verzeichnen: Sie erschwert den Alltag der Siedler und treibt die
Kosten für ihren Schutz in die Höhe. ...
Beginnt sich auf israelischer Seite nicht das Gewissen zu regen? Will
man tatsächlich für Netsarim sterben? Der Schriftsteller David
Grossman, und mit ihm die Bewegung "Frieden jetzt", fordert die
Auflösung der Siedlungen. Ähnlich sieht es Jossi Sarid,
Abgeordneter der linken Merets-Partei in der Knesset: "Dass die
Siedlungen derzeit im Zentrum des Konflikts stehen, bedeutet vor
allem eine Gefährdung ihrer Bewohner, aber auch der Soldaten.
Diese Kolonien müssten sofort aufgelöst werden."
Die neue Intifada markiert eindeutig den Schlusspunkt der
Verhandlungen der letzten zehn Jahre. Wie der palästinensische
Essayist Ghassan Chattib feststellt, hatte sich die PLO, nicht zuletzt
unter dem Druck der USA, damit abgefunden, dass sie "ihre Ziele
am besten erreichen konnte, indem sie auf jede Gewalt verzichtete
und sich ganz darauf verlegte, jene Forderungen einzuklagen, die
durch das internationale Recht gedeckt waren, vor allem durch jene
einzige Resolution des UN-Sicherheitsrats, die sowohl von Israel
wie den USA anerkannt wird: die Resolution 242". Doch diese
palästinensischen Konzessionen und auch die Erfüllung sämtlicher
israelischer Forderungen in Fragen der Sicherheit (tatsächlich gab es
von September 1997 bis September 2000 keine Terroranschläge)
hielten Israel nicht davon ab, weiterhin palästinensischen Boden zu
beschlagnahmen. Um dann beim Camp-David-Gipfel im Juli 2000
zu erklären, "dass im abschließenden Vertrag alle Siedlungen als Teil
Israels weiterbestehen müssten und dass Israel in Jerusalem kein
erobertes Gebiet aufgeben wolle". Solche inakzeptablen
Positionen, aber auch der Sieg
der südlibanesischen Hisbollah in ihrem bewaffneten Kampf waren
die Faktoren, die den neuen palästinensischen Volksaufstand
ausgelöst haben....
Genau wie die erste Intifada, die 1987 begann (und bis 1993
andauerte), ist auch diese Revolte spontan und von unten
entstanden. Eine solche Bewegung kann niemand anordnen. Angeführt wird sie im Wesentlichen von der
Fatah, der Organisation Jassir Arafats, die aber im Rahmen der
Palästinensischen Autonomiebehörde etwas an den Rand gedrängt
wurde, und von einer Schicht mittlerer Kader, die von der ersten
Intifada hervorgebracht wurden. Alle nationalen und islamistischen
Organisationen, einschließlich der Hamas und des islamischen
Dschihad, haben sich - erstmals seit 1987 - einer gemeinsamen
Führungsstruktur untergeordnet und akzeptieren die Fatah als die
führende Kraft. Das Neuartige an dieser Bewegung ist, dass sie sich
als Organisation auf die Anwendung von Gewalt - auch
Waffengewalt - gegen die Vertreter Israels, die Siedler wie die
Soldaten, in den besetzten Gebieten verständigt hat. Welche Rolle
Jassir Arafat dabei spielt, ist nicht genau auszumachen. Die seit
1994 bestehende Palästinensische Autonomiebehörde hat zweifellos
durch ihre Korruptionsskandale wie durch ihre Verhandlungsführung
mit Israel an Glaubwürdigkeit verloren. Indirekt richten sich die
Proteste auch gegen dieses Regime. Zugleich verkörpert Arafat, seit
er sich auf palästinensischem Territorium befindet (bis 1987 war er
im tunesischen Exil) eindeutig den nationalen Befreiungskampf. Und
er hat es auch diesmal verstanden, sich an den Hoffnungen seines
Volkes zu orientieren.
Wie auch immer - die Intifada und die palästinensische Führung
verfolgen dieselben politischen Ziele: die Rückgabe der im Juni 1967
besetzten Gebiete, einschließlich Ostjerusalems. Keinen
Quadratmeter mehr, keinen weniger. Die Palästinenser gehen
davon aus, dass sie mit der Aufgabe von 78 Prozent des
historischen Palästina das Ihre zu einem "historischen Kompromiss"
beigetragen haben; weitere Gebietsanteile wollen sie sich nicht mehr
abnehmen lassen. Ihre Forderung lautet: Beachtung des
internationalen Rechts, namentlich der Resolution 242 des
UN-Sicherheitsrats vom 22. November 1967, Anerkennung des
Rechts auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge - und die
Wiederaufnahme von Verhandlungen auf neuer Grundlage. Marwan
Barghuti, ein Führer der gegenwärtigen Volkserhebung, hat dazu
erläutert, man müsse das amerikanische Monopol auf den
Verhandlungsvorsitz beenden und "eine semiinternationale
Konferenz" einberufen, natürlich unter Schirmherrschaft der
Vereinten Nationen und mit Beteiligung auch von Syrien und
Libanon, neben den Großmächten, Israel und Palästina.
Den israelischen Forderungen, die Gewalt zu beenden, haben
sämtliche palästinensischen Organisationen und alle Aktivisten des
Aufstands immer wieder einmütig entgegengehalten, dass es keine
Rückkehr zur Situation vor dem 28. September 2000, dem Beginn
der Auseinandersetzungen, geben könne. Denn diese Bedingungen
hätten ja gerade zu der aktuellen Eskalation geführt. Dabei halten die
Palästinenser noch einen entscheidenden Trumpf in der Hand: die
Mobilisierung der öffentlichen Meinung in der arabischen und
muslimischen Welt, die neuerdings durch unabhängige arabische
Satellitensender (wie die Fernsehstation Al-Dschasira in Katar)
besonderes Gewicht erhält, weil nun erstmals Direktübertragungen
von der Intifada und den israelischen Repressionsmaßnahmen
gesendet werden. Während der ersten Intifada wie auch während
des Golfkriegs war die vom US-Nachrichtensender CNN geprägte
westliche Sicht der Konflikte im Nahen Osten bestimmend, jetzt gibt
es "arabische Bilder", die den Blick der Fernsehzuschauer in den
Bann ziehen, in palästinensischen Flüchtlingslagern wie in den
Altstadtgassen von Kairo oder Casablanca.
...
Die Strategie der USA im Nahen Osten und am Golf gilt seit dem
Frühjahr 1991, also seit der eklatanten Niederlage Bagdads gegen
die Alliierten, und basiert auf zwei Pfeilern: Lösung des
israelisch-arabischen Konflikts und Isolierung der so genannten
Schurkenstaaten, namentlich des Irak und des Iran. Inzwischen ist
dieses Gebäude erheblich ins Wanken geraten. Das durch das
Boulevardtheater in Florida paralysierte Weiße Haus muss zusehen,
wie die antiirakische Front abbröckelt und erneut eine arabische
Einheitsfront entsteht, die zwar noch wenig gefestigt ist, aber
Bagdad einschließt.
Der Antiamerikanismus, in der Region seit langem verankert, nimmt
weiter zu. Das State Department warnt die US-Bürger immer
wieder vor den Gefahren bei Reisen in die Region. Wie verwundbar
die amerikanische Militärstreitmacht vor Ort ist, hat der tödliche
Anschlag auf den Zerstörer "Cole" am 12. Oktober in Aden gezeigt.
Der Prozess der Integration Israels in die Region ist nicht nur zum
Stillstand gekommen, sondern hat einen Rückschlag erlitten, der ihn
auf den Stand von 1994 (das Jahr des jordanisch-israelischen
Friedensvertrags) zurückwirft, wobei das Misstrauen zugenommen
hat. Und die US-amerikanischen Bemühungen, die Golfstaaten in
eine regionale Verteidigungsinitiative in Form eines groß angelegten
Raketenfrühwarnsystems einzubinden, haben kaum Fortschritte
gemacht.(12 )Dem Nachfolger von Präsident Clinton wird die
schwierige Aufgabe zufallen, die US-Politik in einer Region neu zu
bestimmen, in der es wieder einmal nach Krieg riecht.
Wie wird es weitergehen im Nahen Osten? In Israel wie in den
USA sehen manche Regierungsvertreter die Gefahr einer
Ausweitung des Konflikts auf den Libanon und Syrien oder einer
Destabilisierung der gegenwärtigen Regimes, vor allem in Jordanien.
Israels brutale Repressionsmaßnahmen, zu denen amnesty
international Anfang Oktober erklärte, dass sie "ein
Kriegsverbrechen darstellen könnten", waren lange vorausgeplant.
"Wir haben uns seit zwei Jahren auf Kämpfe dieser Art vorbereitet",
sagte General Schaul Mofas, der Chef des israelischen
Generalstabs, am 14. November.
Aber auch die Mehrheit der israelischen Militärexperten geht davon
aus, dass dies keine Lösung des Konflikts bedeutet. Sollte Israel
seine Reservisten zu den Waffen rufen, wird der Unmut in der
Bevölkerung zunehmen. In der Öffentlichkeit werden, nach einigen
Wochen entsetzten Schweigens, auch wieder die Stimmen
derjenigen laut, die vor allem ein Ende der Siedlungspolitik fordern.
Die wirtschaftliche Erdrosselung der palästinensischen Gebiete, der
Einsatz von Panzern und Kampfhubschraubern, die Terroranschläge
innerhalb Israels - all das wird zwangsläufig den Graben zwischen
den beiden Völkern vertiefen. Und dabei gibt es, wie Umfragen
Mitte November gezeigt haben, trotz alledem in beiden Lagern noch
immer eine Mehrheit, die den Frieden will.
In einem offenen Brief an Ministerpräsident Barak, mit dem Titel
"Eine Minute vor dem nächsten Krieg", schreibt Schaul Mischal,
Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tel Aviv: "Wenn
sich der Rauch des nächsten israelisch-palästinensischen oder
israelisch-arabischen Krieges verzogen haben wird, werden wir
gewiss wieder gesiegt haben. Und Sie, Herr Ministerpräsident,
werden vom Schlachtfeld zurückkehren, um brillante Reden an
frischen Gräbern zu halten. Vielleicht werden Sie sogar viele
Menschen überzeugen können, dass kein Krieg, den die Juden
geführt haben, so gerechtfertigt war wie dieser. Aber es wird ein
Krieg sein, in dem wir alle Schlachten gewinnen, nur um uns am
alten Ausgangspunkt wiederzufinden. Wer wüsste besser als Sie,
dass wir nach dem Ende der letzten Schlacht wieder an den
Verhandlungstisch zurückkehren müssen, dass wir dort mit den
Vertretern der Palästinenser, der arabischen Staaten, mit den
Europäern und Amerikanern und vielleicht unter Beteiligung
internationaler Organisationen über die gleichen schmerzhaften
Probleme diskutieren müssen: über Territorialfragen, über
Jerusalem, über das Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge."
Alain Gresh
(dt. Edgar Peinelt)
Aus: Le Monde diplomatique Nr. 6323, Beilage zur taz, 15. Dezember 2000
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