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Naher Osten - Westsahara: Die Vereinten Nationen kapitulieren vor der Macht

Ban Ki-Moon: Direkte Verhandlungen sind der "einzige glaubwürdige Weg" zu einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts

Von Peter Strutynski *

Am 16. August 2013 besuchte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon Israel und führte in Jerusalem Gespräche mit Ministerpräsident Netanjahu und Staatspräsident Peres. Zudem fand er noch Zeit zu Besuchen bei Justizministerin Tzipi Livni, Verteidigungsminister Moshe Yaalon und bei der Oppositionspolitikerin Shelly Yachimovich. Schließlich traf er sich noch mit Botschafter Martin Indyk, dem Sonderbeauftragten der USA für die israelisch-palästinensischen Verhandlungen.

Der Besuch an sich ist nicht weiter bemerkenswert. Schließlich gehört es zum Geschäft des UN-Generalsekretärs, Regierungen aller Herren Länder Besuche abzustatten. Und es ist ja keineswegs so, dass Ban seine Aufwartung nur der israelischen Seite macht; das Besuchsprogramm im Nahen Osten sah auch Stationen bei der Palästinenserbehörde sowie in Jordanien vor. Bemerkenswert sind vielmehr der Zeitpunkt des Besuchs und die Äußerungen, die Ban von sich gegeben hat.

Neustart mit Hindernissen

Vor wenigen Tagen wurden die Gespräche zwischen Israel und der Autonomiebehörde nach dreijähriger Pause wieder aufgenommen. "Vermittelt" hatte sie US-Außenminister Kerry, der damit außenpolitische Kompetenz der US-Administration in dieser Region vortäuschte. Schließlich war die Nahostpolitik unter der Präsidentschaft Obamas bisher wenig erfolgreich, manche sagen sogar, sie sei demütigend gewesen. Den gut gemeinten Mahnungen Washingtons an die Adresse der rechtsgerichteten Regierung in Tel Aviv, doch von der aggressiven Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten Abstand zu nehmen, begegnete Netanjahu regelmäßig mit weiteren Ausbauplänen - sowohl im Westjordanland als auch in Ostjerusalem. Beim Start der jetzigen "Verhandlungen" war gar nicht mehr die Rede von einem vorübergehenden Siedlungsstopp. Im Gegenteil: Am 11. August beschloss das israelische Kabinett den Bau von 1.187 Wohneinheiten in Ostjerusalem und in den Siedlungen Ariel und Beitar Illit. Der israelische Bauminister von der rechtsgerichteten Partei "Das jüdische Haus" verkündete die Pläne mit der provokanten Aussage: "Kein Land der Erde lässt sich von anderen Staaten vorschreiben, wo es bauen darf und wo nicht". An sich hätte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas unverzüglich das Scheitern der Verhandlungen bekannt geben müssen. Schließlich waren die letzten Verhandlungen 2010 von den Palästinensern abgebrochen worden, nachdem sich Israel geweigert hatte, den zeitweiligen Siedlungsstopp zu verlängern. Wenn Abbas dieses Mal ein Auge zudrückte, dann wohl aus dem Grund, dass der schlaue Fuchs Netanjahu ein anderes Zuckerl präsentierte: Die Freilassung von 104 palästinensischen Häftlingen. Allesamt Terroristen und Mörder, wie die israelische Rechtspresse verkündete, um diesen Deal zu diskreditieren und damit die Wiederaufnahme der Verhandlungen insgesamt in Frage zu stellen.

Ban Ki-Moon hat mit seinem Besuch also den Neustart der euphemistisch als "Friedensprozess" bezeichneten Verhandlungen gutgeheißen. Die Vereinten Nationen segeln im Fahrwasser der US-Nahostpolitik und sind nichts weiter als Erfüllungsgehilfen oder Claqueure der Kerry-Diplomatie.

Dies manifestiert sich auch in dem, was Ban in Jerusalem sagte - und was er nicht sagte. Zunächst feiert er die gerade begonnenen Verhandlungen als eine einzigartige Chance, das Jahr 2013 zu einem Wendepunkt in der Geschichte des israelisch-arabischen Konflikts zu machen. Die Tatsache, dass es zu direkten Verhandlungen zwischen Israel und der palästinensischen Seite komme, sei "ermutigend". Es käme jetzt darauf an, dass die Beratungen ernsthaft geführt werden. Dazu sei ein verhandlungsfreundliches Umfeld nötig. Die Menschen in Palästina bräuchten eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage, Israel bräuchte mehr Sicherheit.

Die entscheidende Frage, wie beides zu erreichen sei, stellt Ban nicht. Ist es nicht die israelische Politik des fortgesetzten Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten, der Enteignung palästinensischen Landes, der Zerstückelung des Westjordanlands und der Abriegelung des Gazastreifens, die ein wirtschaftliches Vorankommen der palästinensischen Gebiete verhindert - und zugleich den Zorn der Palästinenser auf die israelischen Besatzer schürt? Ban spricht auch nicht über die Positionen der Vereinten Nationen zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Wäre es nicht seine Aufgabe als oberster Repräsentant der UNO gewesen, auf die Rechtslage hinzuweisen, wonach kein Staat das Recht habe, in besetzten Gebieten Siedlungen zu bauen und eigene Bevölkerung dort anzusiedeln? Hätte er nicht auch die vielen Resolutionen erwähnen können, die von Israel die Räumung der besetzten Gebiete verlangen. Wäre es nicht angebracht gewesen, gerade in Jerusalem auf den UN-Standpunkt zu verweisen, dass diese Stadt unter internationale Kontrolle zu stehen habe und Ostjerusalem als Hauptstadt eines zu schaffenden Palästinenserstaates vorzusehen sei? Und interessiert ihn nicht das Rechtsgutachten des von der UNO gegründeten Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, das den israelischen Mauerbau auf palästinensischem Gebiet für rechtswidrig hält? Wer darüber nicht redet, akzeptiert das Unrecht. Ban Ki-Moon sprach und schwieg, als wäre er nicht UN-Vertreter, sondern Israel-Lobbyist.

Das schlimmste aber ist, dass Ban die offizielle US-amerikanische und israelische Position - die im Übrigen auch von der EU oder von der Bundesregierung geteilt wird - übernommen hat, wonach der Nahostkonflikt eine Angelegenheit Israels und der Palästinenser sei. In direkten Verhandlungen zwischen diesen beiden Konfliktparteien müsse ein nachhaltiger Frieden entstehen. Und genau das ist eine große Lüge.

Israelisch-palästinensische Asymmetrie

Der Staat Israel konnte 1848 durch Beschluss des UN-Sicherheitsrats gegründet werden - allerdings auf einem weit größeren Territorium, als nach dem ursprünglichen UN-Teilungsplan vorgesehen gewesen war. Zu einer palästinensischen Staatsgründung ist es indessen nie gekommen. Im Sechstagekrieg 1967 hat Israel große Teile palästinensischen Gebietes besetzt und dort in der Folge ein weit reichendes System jüdischer Siedlungen errichtet. Zugleich erlebte Israel den Aufstieg zu einer der stärksten Militärmächte der Welt und verfügt heute - inoffiziell - über eigene Atomwaffen. Das Land ist auch wirtschaftlich ein Riese: Mit mehr als 28.000 US-Dollar Bruttonationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung liegt es knapp hinter Irland und Italien, aber noch vor sämtlichen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten.

Die für eine Staatenbildung vorgesehenen palästinensischen Gebiete, das Westjordanland und der Gazastreifen, hängen dagegen fast vollständig von Hilfszahlungen aus dem Ausland ab. Entbehrung und Elend ist überall mit den Händen zu greifen. Hinzu kommt das Schicksal der in die Millionen gehenden Nachfahren der 1947/48 aus Israel vertriebenen bzw. geflohenen Palästinenser, die in großen Flüchtlingslagern in Jordanien, Libanon, Syrien und anderen arabischen Staaten von UN-Hilfsorganisationen versorgt werden müssen. Der Aufbau einer Verkehrsinfrastruktur in den von Israel besetzten Gebieten ist wegen der zahlreichen Checkpoints, der Vorrangstraßen für Israelis und der militärischen Schutzvorkehrungen für die Siedlungseinheiten nicht möglich. Die palästinensische Autonomiebehörde hängt zudem am Tropf Israels, das die Zolleinnahmen kontrolliert und deren Auszahlung jederzeit zurückhalten kann. Mit dem politischen Schisma zwischen Fatah bzw. PLO, die im Westjordanland residieren, und Hamas, die den Gazstreifen beherrscht, wurde die palästinensische Sache zusätzlich geschwächt. Die Palästinenser verfügen allenfalls über einen - stark nach innen gerichteten - Sicherheitsapparat, aber weder über ein Militär noch über entsprechende schwere Waffen. Der Luftraum wird von Israel kontrolliert. Gewiss: Die viel zitierten Kassam-Raketen, die immer mal wieder von Gaza aus auf südisraelisches Gebiet gefeuert werden, stellen ein rechtliches und ein humanitäres Problem dar; die Angriffe sind mit dem Kriegsvölkerrecht unvereinbar, weil sie unterschiedslos die Zivilbevölkerung bedrohen; und sie versetzen die in den betroffenen israelischen Gebieten wohnenden Menschen in ständige Angst. Militärisch allerdings fallen sie nicht ins Gewicht.

Direkte zweiseitige Verhandlungen leiden also von vorneherein unter dieser eklatanten Asymmetrie. Hinzu kommen die grundsätzlich unvereinbaren Standpunkte: Israel lehnt die Grenzen von 1967 (vor dem Sechstagekrieg) als Verhandlungsgrundlage ab und besteht darauf, seine Grenzen nach eigenem Gutdünken festzulegen. Dazu gehört auch die Weigerung, das Siedlungsprogramm einzustellen. Ostjerusalem wird als Teil des israelischen Staates angesehen und das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr wird rundweg geleugnet.

Demgegenüber beharrt die palästinensische Seite auf einem Ende der Besatzung, auf einer Zweistaatenlösung, die sich im Wesentlichen an den Grenzen von 1967 orientiert, an Ostjerusalem als Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staates und auf der prinzipiellen Anerkennung der Rechte der Flüchtlinge.

Westsahara als warnendes Beispiel

Die Frage, was bei solchen Verhandlungen zwischen so ungleichen "Partnern" herauskommen kann, ist unschwer zu beantworten: Nichts. Das Schicksal der Westsahara ist ein warnendes Beispiel dafür, dass es keine Lösung gibt, wenn man den Konflikt den beiden Kontrahenten selbst überlässt. Marokko hält seit Jahrzehnten die Westsahara besetzt und beansprucht sie als Teil des eigenen Staates. Das letzte Kolonialgebiet Afrikas sollte auf Beschluss der UNO (Sicherheitsrats-Resolution 1429 [2012]) in einem Referendum über die Unabhängigkeit des sahrauischen Volks oder über dessen "Verbleib" bei Marokko abstimmen. Marokko verhinderte eine solche Abstimmung; eine von der UNO entsandte Mission (MINURSO) überwacht seither den Waffenstillstand zwischen der sahrauischen Befreiungsorganisation POLISARIO und Marokko und sollte das beschlossene Referendum vorbereiten und durchführen. Der sog. Baker-Plan hatte ein Referendum bis spätestens 2008 vorgesehen; es wird von Marokko systematisch hintertrieben. Die marokkanische Regierung schließt die Unabhängigkeit Westsaharas kategorisch aus. In zwei Dritteln des besetzten Territoriums hat Rabat marokkanische Bevölkerung angesiedelt und eine mit Marokko verbundene Infrastruktur geschaffen. Die "internationale Gemeinschaft" hat kapituliert und setzt seit 2008 auf direkte Verhandlungen zwischen dem Riesen Marokko und dem Zwerg Polisario. Herausgekommen ist naturgemäß bisher nichts.

Die Vereinten Nationen haben sowohl gegenüber Westsahara als auch gegenüber Palästina eine Verantwortung. Aus der kann man sich nicht dadurch stehlen, indem man den Konfliktparteien zumutet, gefälligst selber eine Lösung zu finden. Eine Re-Internationalisierung der Konflikte wäre zwar noch keine Erfolgsgarantie, könnte aber zumindest die Weltöffentlichkeit mobilisieren. Und der UN-Generalsekretär müsste sich etwas mehr einfallen lassen, als den israelischen Standpunkt nachzuplappern.

* Originalbeitrag für diese Website


Dokumentiert: Der Bericht über Ban Ki-Moons Besuch in Israel auf der UNO-Seite

Wrapping up Middle East visit, Ban voices hope 2013 will be ‘decisive’ year for peace

16 August 2013 – Secretary-General Ban Ki-moon today, on a visit to Jerusalem, stressed his full support for direct negotiations between Israelis and Palestinians, and voiced the hope that this year will be a decisive one for peace in the Middle East.

“I am encouraged that Israelis and Palestinians have re-engaged in direct dialogue. But for these negotiations to have a chance at success, they need to be meaningful,” Mr. Ban said at a joint press conference with Prime Minister Benjamin Netanyahu.

“I know that when a problem has remained an open wound for decades, causing hardships and casualties on both sides, it might sometimes seem that the problem will never be solved,” he continued.

“Dealing [with] the symptom might seem easier in the short term. It takes courage, vision, and creativity to decide that the long-term cost of that problem is actually too high. That is what is happening now with the Israeli-Palestinian issue.”

Direct negotiations between the Israelis and the Palestinians stalled in September 2010, after Israel refused to extend its freeze on settlement activity in the occupied Palestinian territory. Following recent efforts by United States Secretary of State John Kerry, the two sides resumed negotiations this week.

“I am here to urge all the leaders to continue along the path to peace and to underscore a shared commitment to work together to make 2013 a decisive year for Israeli-Palestinian peace and peace in the region,” stated Mr. Ban, who is visiting Israel for the sixth time as Secretary-General.

In addition to Mr. Netanyahu, Mr. Ban also met with Israeli President Shimon Peres. Speaking to reporters along with Mr. Peres, the Secretary-General noted that direct negotiations remain the “single most credible path” to a solution.

He also urged all parties to avoid actions that risk undermining the negotiations. “Both sides need to sustain an environment conducive for the peace process to move forward. People need to see improvements on the ground, including economic progress for Palestinians in the West Bank and Gaza, and greater security for Israelis and Palestinians.”

Mr. Ban also held meetings with Justice Minister Tzipi Livni, Defence Minister Moshe Yaalon and the Leader of the Opposition, Shelly Yachimovich. A separate meeting with Ambassador Martin Indyk, the US Special Envoy for the Israeli-Palestinian Negotiations, covered the resumption of direct negotiations between the parties.

In addition, Mr. Ban took part in an Israeli Model UN event at the UN headquarters in Jerusalem, at which he said students everywhere should have both passion and compassion, and lift their vision beyond boundaries. While at the UN headquarters, the Secretary-General met the new head of the UN Truce Supervision Organization (UNTSO), Major-General Michael Finn.

Also today, Mr. Ban visited the grave site on Mount Herzl in Jerusalem of former Prime Minister Yitzhak Rabin, who the UN chief noted lived through the war to become “a champion of peace and security” for Israel and the region.

“As Secretary-General of the United Nations it is a great honour for me to work together with the people of Israel to build upon his legacy,” Mr. Ban said, adding that he hoped that both parties, Israelis and Palestinians, will remember Mr. Rabin’s legacy and realize a two-State solution.

Mr. Ban’s two-day visit to the region also took him to Jordan and Palestine.

Quelle: UN News Centre, 16. August 2013; www.un.org




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