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Wieder über den Nahen Osten reden!

Eine Nachlese zum Streit um das Grass-Gedicht

Von Wolfgang Tautz *

Günter Grass wollte eigentlich mit seinem Gedicht eine öffentliche Debatte anregen über die Legitimität eines Krieges, über dessen Vorbereitung bisher mit nüchterner Gelassenheit in allen Medien berichtet wurde, einen Angriff Israels auf den Iran. Entstanden ist daraus eine Debatte über die Person von Günter Grass.

Ausgangspunkt

Ist die Kriegsgefahr und die Vermeidung des Krieges keine öffentliche Diskussion wert? Schließlich handelt es sich bei einem militärischen Erstschlag um einen Bruch des Völkerrechts! Oder nimmt Israel dabei nur das Recht auf Selbstverteidigung wahr? Geht vom Iran nicht die größere Gefahr aus? Als Antwort darauf ist ein umfassenderer Blick auf die Region nötig! Die ersten Ansätze dazu werden diskutiert und das ist dann auch Günter Grass zu verdanken.

Einsichten

Ein analytischer Blick auf den Nahen Osten zeigt: Das wahre Risiko für Israel liegt in dem ungelösten Palästina-Konflikt. Mehr als ein Jahrzehnt gibt es keine ernsthaften Verhandlungen mehr zu dessen Lösung. Die Politik der israelischen Regierung zielt allein auf die militärische Überlegenheit ab, um damit scheinbar die Zukunft zu sichern.

Der Umbruch in der arabischen Welt hat aber erkennen lassen: Die bisherige Kräfte-Balance ist zukünftig ungewiss, selbst wenn die Stabilisierung der Verhältnisse aus westlicher Sicht jetzt noch einmal gelingt. Die USA werden nicht die einzige Weltmacht bleiben und in einer immer mehr multipolar werdenden Welt ihre regionale Dominanz nicht dauerhaft sichern können. Wenn die arabischen Nachbarvölker Israels durch ihre Regierungen nicht mehr gezähmt werden können, dann ist die Zukunft Israels wirklich bedroht! Es liegt jetzt an Israel, das verbleibende Zeitfenster zu nutzen, um den Versöhnungsprozess umgehend zu beginnen. Das markanteste Signal dafür wäre ein Ende der jetzigen Siedlungspolitik. Die Kriegsrhetorik gegen den Iran ist die stärkste Ablenkung von dem wahren Problem!

Ist der Iran wirklich der Schlüssel zur regionalen Sicherheit? Bei aller iranischen Rhetorik, der Iran hat keine gemeinsame Grenze mit Israel, keine territorialen Ansprüche, es gibt keine ethnische Verwandtschaft zwischen Iranern und Arabern. Eine Lösung des Palästina-Problems würde der iranischen Propaganda gegen Israel die Grundlage entziehen. Die Araber benötigen dann keine propagierte Solidarität von außen mehr.

Die Absichten und Perspektiven des iranischen Atomwaffenpotentials sind umstritten und bei sachlichem Blick unklar. Eines ist sicher: Israel wird dem Iran auf absehbare Zeit überlegen bleiben. Ein Angriff des Iran würde diese Überlegenheit herausfordern und die USA würden dann Israel bedingungslos unterstützen! Die Vernichtung der militärischen und politischen Strukturen des Iran wären die Folge! Diesem bliebe nur die Rolle des Verlierers und Märtyrers, diese Absicht wird dem Iran bei aller Kritik aber nicht zugeschrieben.

Bei einem Angriff Israels auf den Iran würde der Iran dagegen militärisch allein dastehen. Selbst eine legitime Gegenreaktion des Iran würden die USA zum Unterstützer Israels machen. Das Risiko für den Angreifer würde allerdings darin bestehen, dass das arabische Konfliktpotential in der unmittelbaren Nachbarschaft Israels aufbrechen könnte. Da dieses aber nicht vollständig durch staatliche Institutionen kontrollierbar ist, sind auch die Folgen für Israel dann nicht absehbar. Hier könnte sich das Kriegsszenario von Günter Grass entwickeln.

Folgerunge

Es gilt zunächst, einen militärischen Erstschlag gegen den Iran zu verhindern. Besonnenheit wird dabei den USA abverlangt, um nicht mehr in der Rolle des durch Israel Getriebenen zu agieren. Andere Staaten, auch Deutschland, können das diplomatisch unterstützen. Die Bildung eines palästinensischen Staates auf den Grundlage der Grenzen von 1967 und der bisherigen Verhandlungsergebnisse bis zum Jahr 2000 ist das Hauptproblem und der Schlüssel für die Lösung der anderen Konflikte in der Region. Der mentale Versöhnungsprozess wird danach noch viel Zeit erfordern, bevor die Region als friedlich gelten kann. Ein Beispiel dafür ist der Vorgang der Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze zwischen 1945 und 1990. Er liefert Erfahrungen, die nützlich sein können.

Weiterhin müssen alle Staaten der Region Sicherheitsgarantien erhalten unter Berücksichtigung ihrer bestehenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen. Die inflationären Forderungen nach „Regimewechsel“ stehen solchen Sicherheitsgarantien entgegen, wobei der Westen jeweils nach seinen geostrategischen Interessen gegenüber autoritären Regimen ganz unterschiedliche Maßstäbe anlegt. Zwischen der zulässigen zivilen Nutzung der Atomenergie und dem letzten unzulässigen Schritt zur Atombombe gibt es technisch nur einen schmalen Grat. Nur Sicherheitsgarantien können sich bedroht fühlende Staaten davon abhalten, diesen schmalen Grat als Geheimnis und Abschreckung auszunutzen. Ein regionales Sicherheitssystem ist erforderlich, in das auch Israel mit seinen Atomwaffen einzubeziehen ist.

* Dr. Wolfgang Tautz, Güstrow; Kontakt zum Autor: w.tautz@t-online.de
Das Manuskript war am 16.04.2012 abgeschlossen.



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