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Im Schatten der Terroranschläge: Israels Armee startet neue Offensive

Scharon nutzt die Gunst der Stunde und überholt sogar noch Bush

Die israelische Rechtsregierung um Ministerpräsident Ariel Scharon hat von der Dramatik der Terroranschläge in New York und Washington nur das verstanden, was ihren eigenen Plänen zu nützen scheint. Nachdem die Täter nach US-amerikanischer Lesart nur in islamisch-fundamentalistischen Kreisen zu suchen sind und deren Spur sich allemal auch in die palästinensischen Autonomiegebiete verfolgen lässt, sieht Scharon nun die Stunde der Abrechnung gekommen. Seit Monaten mutmaßen Nahostkorrespondenten und -experten, dass die israelische Armee Pläne für einen großen Waffengang gegen die palästinensische Autonomiebehörde um Yassir Arafat sowie gegen die radikalen Hamas, Dschihad oder Tansim (der bewaffnete Arm von Arafats Al Fatah) schmiede. Seit Wochen eskaliert die Gewalt - trotz eines immer noch bestehenden "Waffenstillstands" - auf beiden Seiten: Selbstmordattentate und andere Anschläge gegen israelische Zivilisten und Militärs hier, dort gezielte Angriffe gegen palästinensische Sicherheitskräfte (vor allem Polizeistationen) und Führer des Widerstands, die des Terrorismus verdächtigt werden.

Mit Panzern und Bulldozern gegen Palästinenser

Wenige Stunden nach den verheerenden Anschlägen auf das World Trade Center in New York, das Pentagon und das Außenministerium in Washington, welche die Welt schockiert haben und bis heute in Atem halten, startete die israelische Armee eine neue Offensive gegen Palästinensergebiete. Mit Panzern und Kampfhubschraubern griffen Soldaten in der Nacht vom 11. auf den 12. September mehrere Orte nahe der autonomen Stadt Dschenin im Norden des Westjordanlands an. Bei dem Angriff zerstörte die Armee nach palästinensischen Angaben ein Gebäude der Palästinenserpolizei. Bei anschließenden Gefechten beschossen die Israelis den Berichten zufolge auch Wohnhäuser. In den Orten Arraba, Tubas und Tammun und in einem nahe gelegenen Flüchtlingslager wurden insgesamt zehn Palästinenser getötet. Mindestens 49 weitere wurden verletzt. Am Morgen zogen sich die Truppen nach Armeeangaben wieder zurück. Schon in den Tagen zuvor hatte die israelische Armee verstärkt Truppen in diesem Gebiet aufmarschieren lassen, nachdem am 9. September bei zwei Selbstmordanschlägen und einem Gefecht sieben Israelis getötet worden waren. Mindestens einer der Selbstmordanschläge soll von Dschenin aus gesteuert worden sein.

In der Nacht vom 12. auf den 13. September drangen israelische Armeeeinheiten mit Panzern und Bulldozern erneut in Dschenin ein um ein Polizeigebäude niederzuwalzen. Nebenbei wurden mehrere Wohnhäuser beschossen, wobei drei Palästinenser getötet, und neun verletzt wurden. Palästinensischen Angaben zufolge handelte es sich bei den Toten um einen "Kämpfer" und um zwei Zivilisten, ein Mann und eine Frau. - Ebenfalls am 13. September (es ist der Jahrestag des Osloer Friedensabkommens von 1994) griff die israelische Armee die Wüstenstadt Jericho sowie zwei weitere Westbank-Orte, Kalkilja und Salfit, an. Auch diese Strafaktionen wurden offiziell damit begründet, dass in deren Nähe vor nicht so langer Zeit palästinensische Anschläge auf jüdische Siedler stattgefunden hätten.

US-Außenminister Powell drängt zur Mäßigung

Nun muss man wissen, dass diese Angriffe erfolgten, nachdem Arafat nicht nur seine tiefe Betroffenheit über die Terroranschläge vom 11. September ausgedrückt und demonstrativ Blut für die Opfer gespendet hatte, sondern am 13. September auch seine Bereitschaft bekundete, sich an einer internationalen Anti-Terror-Koalition zu beteiligen. US-Außenminister Powell drängte sowohl Arafat und Peres - beide hatten sich schon eine Woche zuvor zu einem Gespräch bereit erklärt - als auch Ministerpräsident Scharon, "in Zeiten der Tragödie" zu prüfen, ob es nicht angebracht sei, endlich mit dem geplanten Treffen zu beginnen, um auf diese Weise vielleicht doch einen Einstieg in die Umsetzung des Mitchell-Palns zu erreichen. Arafat und Peres erklärten sich dazu sofort bereit und wollten sich am Sonntag, den 16. September, an einem Grenzort zwischen Gazastreifen und Ägypten treffen.

Doch Scharon und seine ultrarechten Parteigänger im Kabinett sind offenbar anderer Ansicht. Schon im Telefongespräch mit Powell soll Scharon den Palästinenserführer Arafat als "Israels Osama bin Laden" bezeichnet haben. Kabinettsmitglieder äußerten unverhohlen ähnliche Verdächtigungen und lehnten ein Treffen Arafat-Peres grundsätzlich ab. Die Ministerin Limor Livnat zum Beispiel ereiferte sich, die Verabredung sei so unsäglich, als wenn sich "der US-Außenminister mit dem Topterroristen Osama bin Laden treffen würde" (zit. n. Frankfurter Rundschau, 15.09.2001). Den Palästinensern wird systematische Erziehung zur Intoleranz und zum Hass gegen Israelis vorgeworfen. Mir scheint, das offizielle Israel der gegenwärtigen Regierung steht dem in nichts nach. Immerhin ist Limor Livnat israelische Erziehungsministerin.

Palästinenser fürchten um ihre Existenz

Ein Sprecher von Palästinenserpräsident Yassir Arafat warf Israel nach den Angriffen auf Dschenin vor, die "international angespannte Situation auszunutzen". Auch die Autonomierats-Abgeordnete Hanan Aschrawi beklagte sich in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau, dass Israel die Lage nach der Terrorserie in den USA zu einem verschärften Vorgehen gegen die Palästinenser ausnutzen wolle, "wissentlich, dass die Welt derzeit keine Notiz nimmt". (FR, 14.09.2001) In einem Brief, den wir von Sumaya Farhat-Naser, einer der prominenten Frauen der palästinensischen Friedensbewegung, vor zwei Tagen (13. September) erhalten haben, entschuldigt sie sich für diejenigen in ihrem Volk, welche die Terroranschläge freudig applaudiert hätten. Sumaya schreibt: "Das waren nur wenige, aber die Wirkung ist riesengroß. Es ist ein schreckliches Unrecht, das meinem Volk angetan wird, wenn es in seiner Gesamtheit als brutal, unmenschlich und terroristisch bezichtigt wird. Das Besatzungsregime, das nicht nur unser Leben unterdrückt, sondern auch alle Chancen auf eine politische Friedenslösung erstickt, wird diese Zeit nutzen, um unsere Existenz zu verletzen."

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Was indessen die gemäßigte Haltung der US-Administration betrifft, die so gar nicht zu ihrem sonstigen Säbelrasseln gegen die islamische Welt des Bösen passt, kann nur vermutet werden, dass Bush und Powell an der israelisch-palästinensischen Front Ruhe haben möchten, um einen Teil der arabischen Regime des Nahen Ostens für ihren Rachefeldzug auf ihre Seite ziehen zu können. Scharon möchte aber lieber an vorderster Front mit dabei sein, wenn den überall lauernden Osama bin Ladens der Garaus gemacht wird. Denn dann wird er - so sein tödliches Kalkül - vielleicht auch seinen Erzfeind Arafat los. Den Nahen Osten würde dies allerdings noch näher an einen verheerenden Krieg bringen und die vor allem militärisch gestützte Sicherheit Israels wäre dahin.

Peter Strutynski



Letzte Meldung, 15. September 2001:

Der Nahe Osten wird von einer neuen Angriffswelle erschüttert: Israelische Kampfhubschrauber haben im Gazastreifen Einrichtungen der palästinensischen Polizei und des Geheimdienstes mit Raketen beschossen.
Gaza - Im Zentrum der Stadt feuerten sie allein sieben Geschosse auf das Hauptquartier des palästinensischen Geheimdienstes im Zentrum Gazas. Bei Rafah, im Grenzgebiet zu Ägypten, trafen zwei Raketen Sicherheitseinrichtungen der Palästinenser, zwei weitere schlugen im Flüchtlingslager Nusseirat ein. Bei den Angriffen wurden mindestens 23 Menschen verletzt.
In der Nacht vom 14. auf den 15. September hatten israelische Soldaten bei Chan Junis im Süden des Gazastreifens zwei junge Palästinenser erschossen. In derselben Nacht waren israelische Panzer erstmals in autonomes Palästinensergebiet im Süden der Stadt Ramallah eingedrungen.
Innerhalb einer Woche hat die jüngste israelische Armeeoffensive in den besetzten Gebieten mindestens 20 Palästinenser das Leben gekostet. Es war die höchste Zahl von palästinensischen Opfern seit Beginn der Intifada vor fast einem Jahr.
Nach Spiegel-online, 15.09.2001



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