Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Für wen schlägt das Herz?

Der Westen wird sich aus der arabischen Welt zurückziehen, ist der Publizist Ulrich Tilgner überzeugt *


Ulrich Tilgner berichtet seit über dreißig Jahren aus dem Nahen und Mittleren Osten. Für seine Berichterstattung aus Bagdad erhielt er 2003 den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus. Seit 2008 arbeitet er als Korrespondent für das Schweizer Fernsehen. Zu seinen wichtigsten Buchveröffentlichungen zählen: »Umbruch im Iran« (1983), »Der inszenierte Krieg« (2003), »Zwischen Krieg und Terror. Der Zusammenprall von Islam und Politik im Mittleren Osten« (2006). In seinem neuen Buch »Die Logik der Waffen. Westliche Politik im Orient« (Orell Füssli Verlag, 264 S., br., 19,95 €) zeichnet er die Spur des Scheiterns westlicher Interventionen und Sanktionen nach. Mit Ulrich Tilgner sprach für »neues deutschland« Adelbert Reif.

Herr Tilgner, ist der Titel Ihres neuen Buches »Die Logik der Waffen« nicht verfehlt? Denn was für eine Logik ist das, Rüstungsgüter in eine Region zu exportieren, für die man sich vorgeblich Stabilität und Frieden wünscht?

Das ist eben ein Kernproblem der Politik – zu glauben, mit der Anhäufung und dem Einsatz von Waffen Probleme lösen zu können. Diese Vorstellung ist auf dem Boden der Kriege der vergangenen Jahre gewachsen. Das Gemeinsame zwischen der Kabuler Regierung unter Hamid Karzai und der neuen Regierung in Bagdad ist, dass sie – ungeachtet aller Unterschiede – das Ergebnis westlicher militärischer Intervention sind. Und das setzt sich fort im Bürgerkrieg in Syrien, der eine unglaubliche Brutalität entwickelt.

Neben Syrien bestimmt Ägypten zur Zeit das Krisengeschehen im Nahen und Mittleren Osten. Welche Kräfte werden sich über kurz oder lang dort durchsetzen?

Ägypten steht vor einer Weichenstellung. Präsident Mursi verspricht allen eine gute Zukunft. Aber wenn er keine große Koalition schafft, wird er dem Druck seiner radikalen Bündnispartner nachgeben müssen. Jetzt versucht er, die Straße zu beruhigen und die liberalen und linken Nationalisten irgendwie einzubinden. Langfristig kommt er damit nicht durch. Er muss die Öffnung wagen. Die Mitglieder dieses politischen Spektrums sind zwar meist auch gläubig, betrachten jedoch Religion als Privatsache, die keinen Einfluss auf staatliche Politik haben soll. Mursi und die Moslembrüder scheuen sich, diesen Schritt zu gehen. Aber ohne diesen Schritt wird es eine weitere Radikalisierung und eine weitere Aufsplitterung in Ägypten geben.

Muss man befürchten, dass Ägypten mittel- oder sogar längerfristig in einen Zustand der Anarchie verfällt?

Das glaube ich nicht. Ägypten ist ein uralter Staat mit einer zentralen Gewalt. Die Menschen wissen, dass sie ohne eine Regierung nicht weiterkommen. Der Sturz von Mubarak kam viel zu spät. 15 Jahre früher hätte eine neue Regierung in Kairo ein leichteres Spiel gehabt, die richtigen Weichen zu stellen. Mittlerweile ist die Entwicklung der Weltwirtschaft davongezogen. Und wenn der zeitliche Rückstand nicht wettgemacht wird, sondern sich durch die innere Zersplitterung noch weiter vergrößert, werden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in Ägypten nicht gelöst werden können. Die soziale Katastrophe ist damit programmiert.

Worin unterscheiden sich die Konflikte in Ägypten und Syrien?

In Ägypten erfolgte der Machtwechsel durch einen breiten Protest der jungen Generation. Gruppen unterschiedlicher Ideologien und Religionen waren beteiligt. Christen, Muslime, Nationalisten, Linke schlossen sich zu diesem Bündnis der Straße gegen die Regierung zusammen.

Dieser Ansatz scheiterte in Syrien bereits zu Beginn, weil Saudi- Arabien bewaffnete Gruppen sofort mit Waffen unterstützte. Deserteure bekamen Waffen und Geld als Anreiz. Die Opposition der Intellektuellen, der Akademiker und der bürgerlichen Gruppen in Damaskus und Aleppo wurde in den Hintergrund gedrängt. Zudem versuchte Assad, diese Gruppen einzubinden. Das heißt, der friedliche Protest, der klassische Arabische Frühling wurde in Syrien abgewürgt und sehr schnell durch einen bewaffneten Kampf ersetzt. Dieser mündete in einen Bürgerkrieg, der zu einer unglaublichen Selbstzerfleischung der syrischen Gesellschaft führen wird.

Wie könnte die Zukunft Syriens nach dem Ende des Assad-Regimes aussehen?

Das lässt sich nicht vorhersagen, weil nicht einmal klar ist, ob das Assad-Regime fällt. Es könnte sein – und das ist die Prognose von Lakhdar Brahimi, dem UN-Vermittler aus Algerien –, dass das Land in verschiedene Herrschaftsgebiete zerfällt: in sunnitische, kurdische, christliche Regionen. In Damaskus könnte es ein Machtzentrum von Assad geben, das er mit seinen Getreuen noch halten kann.

Militärische Gruppen übernehmen die Kontrolle in den jeweiligen Gebieten und reiben sich in Clankämpfen auf. Der Bürgerkrieg schwächt sich in der Folge ab, und die jeweiligen Warlords bauen ihre Strukturen aus.

Unterstützt werden sie aus dem Ausland, von der Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Russland und von wo auch immer. Darum ist Brahimi überzeugt, dass jetzt gehandelt werden muss. Wenn kein Kompromiss erzielt wird, droht die Fragmentierung Syriens.

Welche Auswirkungen wird das für den Westen haben?

Keine großen. Die innerarabischen Auswirkungen sind viel bedeutsamer. Es ist zu beobachten, dass sich der Westen vorsichtig zurückzieht. Er kann in dieser Region militärisch und politisch nicht konstruktiv arbeiten. Weder die westliche Politik noch der westliche Militäreinsatz erzielten Erfolge. Arabische Akteure übernehmen die Kontrolle über die Region, vor allem Saudi-Arabien mit seinen immensen Öleinnahmen. Die saudische Königsfamilie hat großes Interesse daran, den Arabischen Frühling zu beenden. Mit seinem Geld und seinem Einfluss, der religiös vorgetragen wird, hat Saudi- Arabien die Möglichkeit, in der Region gefällige politische Strukturen zu schaffen.

Wird es somit zu neuen Kräfteverschiebungen im Nahen und Mittleren Osten kommen?

Langfristig wird die Region von den reichen Staaten der arabischen Halbinsel beherrscht werden, die selbst aber immer größere Legitimationsprobleme entwickeln. Zur eigentlichen Veränderung wird es erst kommen, wenn die Monarchien und Fürstentümer in der Golfregion zusammenbrechen. Wann das passiert, ist nicht prognostizierbar.

Der Westen wird sich aus der Region mehr und mehr zurückziehen. Das hängt damit zusammen, dass die Ölproduktion von allen Beteiligten – so unterschiedlich sie sein mögen – mit aller Kraft vorangetrieben wird. Sowohl die Regierung in Teheran als auch das saudische Königshaus und Assad sind auf Devisen angewiesen. Einen gemeinsamen Ölboykott wie 1970 wird es nie wieder geben. Der Weltmarkt wird mit Energie versorgt, und damit erübrigt sich eine westliche Intervention.

Worin bestehen die größten Fehler der europäischen Politik im Nahen und Mittleren Osten?

Die europäischen Staaten haben sich die amerikanische Art, Militäreinsätze durchzuführen, zu eigen gemacht. Die Umstrukturierung und die Professionalisierung der Streitkräfte sowie die Abschaffung der Wehrpflicht erfolgten ebenfalls nach amerikanischem Vorbild. Durch eine Wehrpflicht wäre die Bevölkerung in Militäreinsätze ganz anders involviert, als wenn eine Berufsarmee oder eine Armee von Zeitsoldaten in einen Kampf geschickt wird. Überall sind die USA das große Vorbild. Damit hat Europa die Chance verspielt, in der Region als Partner für eine prowestliche, entmilitarisierte Entwicklung gesehen und gewählt zu werden.

Wie sollte sich Europa gegenüber den Problemen der Länder im Nahen und Mittleren Osten verhalten?

Extrem wichtig wäre es, dass Europa eine konsequente Position im israelisch-palästinensischen Konflikt einnimmt und auf die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates drängt. Es kann nicht sein, dass Europa mit der Fatah in Ramallah verhandelt, wenn es Probleme mit der Hamas gibt. Europa muss auch mit der Hamas verhandeln. In Syrien müsste es mit offensivem politischen Einsatz auf die Beendigung des Bürgerkrieges drängen, statt ihn zu verschweigen, wie dies derzeit geschieht. Und schließlich sollte Europa sich um einen Dialog mit Iran bemühen, in dem das Land ernst genommen wird und man nicht nur Vorschriften macht.

Europa darf sich nicht in diese Sanktionsfalle der USA hineinbegeben. Langfristig führt es nur zur Schaffung eines weiteren Katastrophenherdes, wenn ein Land wie Iran implodiert, weil es so sanktionsgeschwächt ist.

Sind Sanktionen überhaupt ein geeignetes Mittel, um das Regime in Iran zu lenken?

Die Sanktionspolitik führt zu einer Schwächung Irans als politisches, wirtschaftliches und soziales Gebilde, aber nicht zu einer Schwächung des Regimes. Und wenn Iran zu schwach ist, um eine neue Politik entwickeln zu können, es an Geld und Ressourcen fehlt und die Industrie zusammenbricht, kommt eine Entwicklung in Gang, die man im Westen überhaupt nicht bedenkt. Die Sanktionen werden nicht dazu führen, dass die Islamische Republik durch eine prowestliche Regierung ersetzt wird und sich eine neue produktive politische Atmosphäre entwickelt. Stattdessen wird das Land zusammenbrechen. Es war seinerzeit ein großer Fehler der USA, zu meinen, ein sanktionsgeschwächter Irak eigne sich, das Regime zu stürzen und ein neues System aufzubauen. Ähnlich wird es in Iran sein.

Seit geraumer Zeit ist eine immer stärkere Beteiligung Deutschlands an den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten und nun auch in Afrika zu beobachten. Die Anschaffung der Killerdrohnen durch die Bundeswehr vervollständigt das Bild deutscher Kriegsbereitschaft. Welche Auswirkungen wird dies auf das Bild von Deutschland in jenen Regionen haben?

Das konnte man in Afghanistan beispielhaft sehen. Nachdem die AWACS-Flugzeuge geschickt worden waren, gab es einen Schwenk in der afghanischen Bevölkerung. Man billigte Deutschland keine Sonderrolle mehr zu, sondern betrachtete es als Teil der westlichen Staaten, im Bündnis mit den USA. Das gilt mittlerweile für die gesamte Region und für Afrika, selbst wenn Deutschland nicht diese Art des bewaffneten Eingreifens wie die USA pflegt.

Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und jetzt Mali ... Es scheint, dass sich die Spirale kriegerischer Interventionen immer schneller bewegt. Wie wird es weitergehen?

Mit den Drohnen erleben wir eine völlig neue Phase der Kriegführung. Die USA sind federführend. Sie führen Geheimeinsätze durch. Und wie viele Soldaten dabei umkommen, erfährt man nicht. Mal sind es Soldaten, in anderen Fällen werden CIA-Mitarbeiter als Soldaten ausgegeben. Betrieben wird eine indirekte und geheime Kriegführung. Sie erfasst immer größere Bereiche, weil die Idee, radikale Kräfte mit militärischem Einsatz zu schwächen, nicht greift. Im Gegenteil, Militärinterventionen rufen Widerstand hervor.

Der Kampf gegen den Terror führt zu einer Verbreiterung des Terrors. Es sind ja nicht die Bewohner Malis, die auf einmal Terroristen werden wollen, sondern es sind unzufriedene Populationen und Stämme sowie vernachlässigte Minderheiten. Wer meint, durch bewaffnete Verfolgung, Luftangriffe und Drohneneinsätze diese Radikalen schlagen zu können, irrt. Sie werden sich immer neue Wirkungsfelder suchen. Und gerade in Afrika werden sie noch viele finden.

Sind Ihre Prognosen für Afrika ähnlich düster wie für den Orient?

Mittelfristig sind meine Prognosen auch für Afrika düster. Aber dass die afrikanischen Staaten zwangsläufig eine lange Periode des Horrors durchlaufen müssen, sehe ich nicht. Langfristig haben sie eine aussichtsreiche Zukunft. Im Mittleren Osten ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich die politischen Strukturen ändern. In Afrika wird es ähnlich sein. Es gibt dort durchaus eigenständige Entwicklungen, zum Beispiel in einigen ostafrikanischen Staaten. Viel wird davon abhängen, was in Ägypten, in Ghana und in den westafrikanischen Staaten passiert.

Hilfreich wäre, wenn der Westen das Bündnis mit der jungen Generation und den Trägern zukünftiger Modernität in diesen Ländern suchte, statt sich immer wieder auf die Seite von merkwürdigen Herrschern zu schlagen wie dem saudischen König, dem jordanischen König, dem König von Marokko oder anderen autoritären Herrschern in Afrika. Der Westen muss klar machen, für wessen Seite sein Herz schlägt. Kann er sich dazu nicht durchringen, wird er künftige Bündnispartner vor den Kopf stoßen und das Leben der Regime verlängern.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 10. April 2013

Das Buch zum Thema:

Ulrich Tilgner: Die Logik der Waffen. Westliche Politik im Orient
Orell Füssli Verlage: Zürich 2012, Hardcover; EUR 19,95 [D] 20,60 [A]; SFR 26,90; ISBN 978-3-280-05489-5




Zurück zur Nahost-Seite (arabischer Raum)

Zurück zur Homepage