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Auch Arafat ist gemeint

Ein Kommentar zur öffentlichen Hinrichtung von Scheich Ahmed Yassin

Im Folgenden dokumentieren wir einen Kommentar des Nahostexperten Ludwig Watzal, den die Wochenzeitung "Freitag" am 26. März 2004 veröffentlichte.


Von Ludwig Watzal

Bisher hat die israelische Regierung 167 vermeintliche Terroristen durch fliegende Standgerichte liquidieren lassen; dabei gab es 72 "Kollateraltote", das heißt Menschen, die zufällig zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Ein Vorgehen, das nach dem Völkerrecht den Tatbestand des Staatsterrors erfüllt und dessen Urheber vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gehörten, würde der nach seinen Statuten handeln können.

Es dürfte nicht zuletzt dieser demonstrative Bruch eines offiziell durchaus noch gültigen Normen- und Wertekodex´ gewesen sein, der die EU-Außenminister unmittelbar nach dem Mord an Scheich Yassin zu einer erstaunlich scharfen Reaktion veranlasste. Selbst der britische Außenminister Straw fand harsche Worte, so als ob seine Regierung nicht mit dem Angriffskrieg gegen den Irak vor einem Jahr vorgeführt hätte, wie sie als Verbündete der USA heute mit internationalem Recht umzugehen wünscht.

Scheich Yassins Hamas wurde zuletzt im Westen nur noch mit islamischem Fundamentalismus und Selbstmordattentaten in Verbindung gebracht, sie galt als die Terrororganisation schlechthin, deren sich der israelische Staat zu erwehren hatte. Andere Stimmen - etwa die der beiden israelischen Sozialwissenschaftler Shaul Mishal und Avraham Sela, die Hamas vorzugsweise als ein soziales Netzwerk qualifizieren, das für ein beachtliches Bildungs- und Beschäftigungsprogramm in den palästinensischen Autonomiegebieten Sorge trägt - blieben unbeachtet.

Wofür also steht die von Scheich Yassin 1987 gegründete Organisation, die als Rivale der PLO in ihren Anfängen sogar von Israel toleriert und unterstützt wurde?

Ohne jeden Zweifel kämpft Hamas zuallererst für die Befreiung Palästinas und führt deshalb einen "Heiligen Krieg" gegen Israel. Angestrebt wird die Gründung eines islamischen Staates in der Region sowie eine tiefgreifende Läuterung und Reform der Gesellschaft im Geiste eines "wahren Islam". Diese religiöse Vision wird mit einem militant nationalistischen Impetus vertreten und mündet in eine unversöhnliche Feindschaft gegenüber Israel. Ein Selbstverständnis, das entscheidend dazu beigetragen hat, dass in Hamas heute weltweit eine rücksichtslos operierende Terrororganisation gesehen wird.

Deren Basis hat sich seit jeher vorwiegend aus den ärmeren Volksschichten rekrutiert, auch wenn inzwischen Palästinenser aus der gesamten Gesellschaft und - nicht zuletzt - der palästinensischen Diaspora zu den Mitgliedern und Förderern gehören. Die Funktionäre von Hamas gelten als integer, anders als Arafats korrupte "Tunesier", die hinter hohen Mauern Prunk und Prachtvillen verbergen. Die Israelis können jederzeit nahezu jeden Hamaspolitiker verhaften, denn deren Aufenthaltsorte sind allgemein bekannt - auch der gelähmte Scheich Yassin hatte nie Zuflucht im Untergrund gesucht. Dass die israelische Armee sich nicht scheute, diesen hilflosen Rollstuhlfahrer mit einem Apache-Kampfhubschrauber anzugreifen, sprengt alle Maßstäbe. Warum hatte eine Atommacht Angst vor einem spastisch Gelähmten?

Die Hamas Yassins verstand sich seit ihrer Entstehung niemals ausschließlich als reine Kampfformation, sondern mindestens ebenso als soziale Bewegung, die Kindergärten, Schulen, Büchereien, Jugend- und Sportclubs sowie Einrichtungen zur Erwachsenenbildung unterhielt. Wie andere Muslimbruderschaften baute Hamas einen medizinischen Service mit eigenen Krankenhäusern auf, finanziert durch Zahlungen aus dem Ausland, durch Spenden von islamischen Organisationen sowie Privatpersonen. Mit Beginn des so genannten Anti-Terror-Kampfes wurden zahlreiche dieser Zuwendungen durch die US-Regierung mit dem Argument unterbunden, es würden damit Anschläge finanziert.

Es wäre im Übrigen schlichtweg falsch, Hamas mit dem Stigma eines radikal dogmatischen Fanatismus zu versehen, dem schon jeder Anflug von Pragmatismus verhasst ist. Im Sinne ihres Endziels, der Befreiung Palästinas, würde die Hamas-Führung durchaus einen zeitlich begrenzten Waffenstillstand mit Israel akzeptieren, sollte sich dessen Armee aus Ost-Jerusalem und auf die Grenzen von 1967 zurückziehen. Diese Facetten - vor allem die damit verbundenen Möglichkeiten für eine Diplomatie der Kompromisse - werden in Israel nicht wahrgenommen und in den USA wie in Europa weitgehend ignoriert. Die Folge einer klaustrophoben Weltsicht, die nichts mehr fürchtet als eine Erschütterung der Anti-Terror-Allianz und ihrer militärischen Schlagkraft.

Israel hat nun mit seinem Terroranschlag auf Scheich Yassin nicht nur den Kopf von Hamas getroffen, sondern auch Yassir Arafat gegenüber einmal mehr angedeutet, was möglich ist. Die Drohung mit Enthauptungsschlägen gegen die palästinensische Führung hat vor allem eine Konsequenz - die israelische Regierung verliert damit jeden denkbaren Verhandlungspartner auf palästinensischer Seite, aber offenbar will sie genau das. Unter diesen Umständen von einer möglichen Belebung der Road Map zu reden, kommt einer zynischen und zynisch vorsätzlichen Verkennung der Realitäten gleich.

Abdel Rantissi, zweiter Mann hinter Yassin, hat in einer Erklärung Israels "Staatsterror" nicht nur als Kriegserklärung gegen die Araber und die Muslime, sondern als gegen den Islam im allgemeinen gerichtet bezeichnet, so dass die Frage erlaubt sein muss, ob sich ein Regionalkonflikt um Land und das Existenzrecht eines Volkes zu einem religiösen Konflikt in der Region oder darüber hinaus entwickelt. Dann würde aus den Kulturkampf-Visionen eines Samuel Huntington und extremistischer US-Politiker doch noch eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Aus: Freitag 14, 26. März 2004

(Vgl. auch die Homepage von Ludwig Watzal: http://www.watzal.com/f_fog.html)


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