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Von einer Zone des Zorns zu einer Zone des Friedens

Anmerkungen zu den Umbrüchen in Arabien und notwendigem Politikwechsel des Westens

Von Heinz-Dieter Winter *

Erleben wir ein »Arabisches Erwachen«, von dem der libanesische Historiker George Habib Antonius (1891-1941) vor über siebzig Jahren schrieb? Was Mitte Januar mit dem Sturz von Ben Ali in Tunesien begann und Ende des Monats Ägypten erfasste, hat in der Folge weitere Länder wie Jemen, Jordanien, Algerien, Libyen, Marokko und Bahrain ergriffen. Selbst in Saudi-Arabien beginnt die Opposition, sich zu regen. Zeitpunkt und Ausmaß der Ereignisse mögen überraschend sein. Doch sie sind es zumindest nicht für jene, die die seit 2002 erscheinenden, vom United Nations Development Programme gesponserten Arab Human Development Reports (ADHR) regelmäßig lesen. Hierin haben arabische Wissenschaftler über die Jahre bereits die Ursachen benannt, die nun in »Tage des Zorns« mündeten. Sie beschrieben detailliert, wie und warum sich die Situation der Menschen in der arabischen Welt stetig verschlechtert hat. Die Berichte weisen auf gravierende Entwicklungsdefizite in der jüngsten Zeit hin.

Dar arabische Raum ist hinsichtlich der Wachstumsraten und Einkommensentwicklung weit hinter anderen Weltregionen zurückgeblieben, nur in Schwarzafrika ist die Situation noch dramatischer. Knapper werdende, teils existenziell wichtige Ressourcen wie Trinkwasser und Ackerland, stehen einem enormen Bevölkerungswachstum gegenüber. Das Pro-Kopf-Einkommen ist in den letzen Jahren nur um geringe 0,5 Prozent gestiegen. Auf 395 Millionen Menschen wird die Bevölkerung in den arabischen Ländern bis zum Jahr 2015 wachsen (zum Vergleich: 2007 zählte man 317 Millionen). Das Wirtschaftswachstum ist zu gering, um die bis zum Jahr 2020 benötigten 51 Millionen neuen Arbeitsplätze zu schaffen. Schon jetzt leben 60 Prozent der Mauretanier, 45 Prozent der Jemeniten und 40 Prozent der Ägypter unterhalb der mit zwei Dollar im Monat fixierten Armutsgrenze.

Eines der gravierendsten Probleme ist die zunehmende Jugendarbeitslosigkeit. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung im arabischen Raum sind jünger als 35 Jahre. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt z. B. in Algerien 46 Prozent. Die Menschen, besonders die junge Generation, spüren immer mehr, dass die diktatorischen Regimes nicht fähig und nicht willens sind, die Lage zu verändern Die Jugend sieht unter den gegenwärtigen Regimes keine Zukunftsaussichten. Und der (Aus-)Weg nach Europa ist ihnen, wie jüngst der Umgang mit den auf Lampedusa eintreffenden Flüchtlingen aus Tunesien zeigt, versperrt.

In der Mehrheit der arabischen Staaten gibt es keine demokratischen Regierungen oder Institutionen, Korruption ist allgegenwärtig. In sechs Ländern des arabischen Raums sind politische Parteien verboten bzw. wird deren Tätigkeit unterdrückt. Freie demokratische Wahlen fanden bisher nur im Januar 2006 in den palästinensischen Gebieten statt. In Ägypten, Syrien, Algerien und anderen Ländern herrscht Ausnahmezustand. Andauernde Menschenrechtsverletzungen, Okkupation, militärische Intervention und Kriege behinderten die gesellschaftliche Entwicklung, führten den Staaten unermesslichen Schaden zu. »Es ist nicht länger möglich, die Errichtung des pluralistischen, demokratischen Staates in unserer arabischen Welt zu verschieben«, formulieren die Autoren der AHDR-Berichte.

»Kefaya« – »Es ist genug« – riefen die Ägypter. Es war ein junger tunesischer Gemüsehändler mit Hochschulausbildung, der durch seine Selbstverbrennung die Demonstrationen auslöste, die zum Sturz von Ben Ali führten. Während in der Vergangenheit Demonstrationen zur Verbesserung der Lebenslage, so gegen Preiserhöhungen, dominierten, stehen seit Januar 2011 politische Forderungen bis zum völligen Sturz der herrschenden Regimes im Vordergrund.

Ein wesentliches neues Element in der gesellschaftlichen Kommunikation auch in der arabischen Region ist die Nutzung von Internet und Handys. Sie waren für die jungen Araberinnen und Araber wichtigste Instrumente zur Organisation der Massendemonstrationen. Von etwa 82 Millionen Ägyptern besitzen etwa 33 Millionen ein Handy und verfügen etwa 20 Millionen über einen Internetanschluss; etwa fünf Millionen sind Facebook-Nutzer. Ein Teilnehmer an den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, der Politikwissenschaftler Al-Khamissi, gab in einer deutschen Zeitschrift einen dort kolportierten Witz wider: »Endlich treffen sich Mubarak, Nasser und Sadat im Himmel. Da fragen Nasser und Sadat: Gift oder Kugeln? Mubarak antwortet: Facebook.« (in: »Die Zeit« v. 10. Februar).

Die »Tage des Zorns« sind noch nicht vorbei. Der »arabische Frühling« wird die politische Landschaft des Nahen und Mittleren Ostens verändern. Für das arabische Aufbegehren gibt es gemeinsame Ursachen, aber auch spezifische Besonderheiten. Während in Ägypten und Jemen die Armut eines großen Bevölkerungsanteils die wichtigste Ursache ist, gilt das nicht in dem Maße für Libyen oder Bahrain. Hingegen spielen Stammesinteressen in Libyen und Jemen eine weit höhere Rolle als woanders. In Bahrain sind angesichts der Herrschaft der sunnitischen Al-Khalifa-Dynastie über eine schiitische Bevölkerungsmehrheit innerreligiöse Konflikte von größerer Bedeutung als anderenorts. Aber allen Demonstranten gemeinsam ist die Ablehnung der bisherigen Herrschaftsstrukturen und das Streben nach politischer Partizipation.

Die weitere Entwicklung im arabischen Raum ist schwer vorherzusagen. Eines ist sicher, die Umgestaltung wird schwierig werden. Brüche und Rückschläge der Demokratiebewegung sind möglich. Hier und dort könnten sich autoritäre Regimes schließlich doch noch – ob durch Anwendung von Gewalt oder durch Reformversprechen – behaupten. Auch Machtwechsel ohne grundsätzliche Veränderungen politischer Strukturen sind nicht auszuschließen.

Die zukünftige Rolle der Armee in Ägypten und in anderen von Unruhe erfassten Staaten ist noch unklar. Ethnisch-religiöses Konfliktpotenzial wie zwischen Schiiten und Sunniten könnte virulenter werden. In Ländern wie Jemen oder Libyen besteht durchaus die Gefahr, dass Stammeskonflikte die Demokratiebewegung belasten und sezessionistische Bestrebungen fördern. Und schließlich könnten gewaltbereite radikale Islamisten, die bisher noch zumeist im Hintergrund agieren, versucht sein, die Gunst der Stunde für sich zu nutzen. So bleibt abzuwarten, wie es den im Aufbruch befindlichen Völkern gelingt, demokratische Strukturen zu schaffen, die weniger den Ratschlägen des Westens als den besonderen Bedingungen ihrer Länder entsprechen.

Der Westen wird sicher alles tun, die Entwicklung so zu beeinflussen, dass seine Interessen und Positionen gewahrt bleiben. Dabei sollte er bedenken, dass die Empörung in den arabischen Staaten auch Ausdruck und Ergebnis einer gescheiterten Strategie des Westens selbst ist. Im Rahmen des Projektes Greater Middle East hatten die USA und die Europäische Union vor Jahren auf Reformen im Rahmen einer »Demokratisierung von oben« gedrängt, um den Druck unten abzufangen. Aber angesichts zunehmenden Einflusses islamistischer Kräfte, z. B. in Ägypten, wurde dieses Konzept dann mit wenig Nachdruck betrieben, im Gegenteil, im Interesse von »Stabilität« westlichen Einflusses wurden die herrschenden Regimes unterstützt und hofiert. Nun fällt es dem Westen schwer, eine politische Linie zu finden, um die von ihr vertretenen Werte, demokratische Freiheiten und freie Wahlen mit dem eigenen Bestreben in Übereinstimmung zu bringen, Einfluss in der für sie strategisch wichtigen erdölreichen Region des Nahen und Mittleren Ostens weiterhin zu wahren.

Die Ereignisse in Tunesien und dann in Ägypten gingen der westlichen Politik offensichtlich gegen den Strich. Die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie hatte gar noch am 11. Januar polizeiliche Hilfe zur Unterdrückung der tunesischen Protestbewegung angeboten. Die Münchener Sicherheitskonferenz Anfang Februar, insbesondere die Erklärungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Außenministerin Hillary Clinton, machten deutlich, dass versucht werden sollte, strategischen Positionen des Westens in Ägypten durch einen »Chaos vermeidenden« Übergang mit Mubarak und seiner Regierung zu sichern. Die mutigen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz vereitelten dieses Ansinnen.

In der Nacht zum Freitag hat der UNO-Sicherheitsrat nun eine Flugverbotszone über Libyen und »alle notwendigen Maßnahmen« zum Schutz der Zivilbevölkerung beschlossen. Deutschland, Russland und China gehören zu denen, die sich der Stimme enthalten haben. Damit ist der Weg für militärische Intervention von NATO-Staaten frei.

Es ist mehr als zweifelhaft, dass das eigenständiger arabischer Demokratieentwicklung dienlich ist. Im Gegenteil: Damit könnten ähnliche Situationen wie in Irak und Afghanistan entstehen. Schon einmal im Jahre 1994 scheiterte eine »humanitäre Intervention« in Somalia. Westliche Militärinterventionen im arabischen Raum haben niemals zu etwas Gutem geführt.

Zwei Fragen tangieren die Ausrichtung westlicher Politik vor allem: Welche Auswirkungen werden Umbrüche im arabischen Raum für die Sicherheit Israels haben? Und wie soll der Westen sich verhalten, wenn in einer Reihe von Ländern islamistische Parteien und Bewegungen im Ergebnis von freien Wahlen die Regierung übernehmen oder daran beteiligt werden?

In Bezug auf die erste Frage äußerte ein ehemaliger israelischer Botschafter in der Bundesrepublik in einer ZDF-Diskussion seine Bedenken, dass die Friedensverträge mit Anwar al-Sadat und König Hussein und nicht mit dem ägyptischen bzw. dem jordanischen Volk geschlossen worden sind. Doch nichts spricht bisher dafür, dass diese Verträge annulliert werden könnten.

Ob jedoch künftige, die Interessen ihrer Völker wirklich repräsentierende Regierungen im arabischen Raum weiterhin die ständigen israelischen Übergriffe und Verletzungen völkerrechtlich verbriefter Rechte der Palästinenser sowie der universellen Menschenrechte schweigend dulden werden, sei dahingestellt. Auch die USA und Europa werden das nicht mehr zulassen können wie bisher. Deutsche Nahostpolitik darf nicht mehr einseitig auf die Sicherheit Israels fixiert sein, sondern muss gleichermaßen engagiert für die Realisierung der Rechte der Palästinenser eintreten.

Bezüglich der zweiten Frage wird man akzeptieren müssen, dass islamistische Parteien und Bewegungen, wie die Moslembrüder in Ägypten, zu legalen politischen Akteuren avancieren. Der Westen kann sich nicht so verhalten, wie nach dem Wahlsieg der Hamas in den palästinensischen Gebieten im Jahre 2006.

Das Verhältnis des Westens und der islamischen Welt muss auf gegenseitiger Akzeptanz beruhen. Die sich formierenden neuen demokratische Regierungen südlich des Mittelmeeres müssen in ihrem Kampf um Beseitigung wirtschaftlicher und sozialer Missstände unterstützt werden. Da ist europäische Hilfe sehr gefragt. Das bedeutet aber auch, dass die arabischen Länder nicht länger nur als Absatzmärkte und Rohstofflieferanten angesehen und so behandelt werden dürfen. Ihnen müssen faire Chancen für den Absatz ihrer Erzeugnisse in Europa gewährt werden.

Es gilt, endlich ernst zu machen mit den Zielen der Europa-Mittelmeer-Konferenz von Barcelona 1995, um Europa und die Staaten südlich des Mittelmeeres zu einer Zone des Friedens, der Stabilität und des geteilten Wohlstandes zu gestalten.

* Dr. Heinz-Dieter Winter, Jg. 1934, war Botschafter der DDR in Tunesien, Syrien und Jordanien; er ist Mitglied der Initiative »Diplomaten für den Frieden mit der Islamischen Welt«

Aus: Neues Deutschland, 19. März 2011



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