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"Alle Seiten hatten ein Interesse an der Eskalation"

Der Historiker Moshe Zuckermann über den Nahost-Konflikt, die Missachtung ziviler Opfer und die Rolle der USA

Moshe Zuckermann wurde 1949 als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und lebte lange Zeit in Frankfurt (Main). Der Historiker und Soziologe lehrt heute am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität von Tel Aviv, wo er bis 2005 das Institut für Deutsche Geschichte geleitet hat. Mit ihm sprach Susann Witt-Stahl.
Das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, erschien im "Neuen Deutschland".*



ND: Ein israelischer Soldat wird entführt, und kurze Zeit später stehen weite Teile des Nahen Ostens in Flammen. Wie konnte eine Aktion des bewaffneten Arms der Hamas zu einem Krieg eskalieren?

Zuckermann: Formal ging es zunächst um die Befreiung des Entführten und bei der Gelegenheit auch darum, ein Zeichen zu setzen, dass die Hamas sich ja nichts auf ihre – zugegeben gelungene – militärische Aktion einbilden solle: Die militärische Oberhoheit sollte in israelischen Händen bleiben. Als dann noch zwei weitere Soldaten von der Hisbollah entführt und israelische Grenzorte beschossen wurden, ging der Sturm los. Zwar hätte man die Entführungskrise ganz anders lösen können, nämlich durch Gefangenenaustausch. Da man aber offiziell weder mit der Hamas noch mit Hisbollah verhandelt, war der Militärschlag das vermeintlich einzige verbleibende Mittel »angemessener« Reaktion. Er kam allerdings wie bestellt.

Wie meinen Sie das?

Alle beteiligten Seiten hatten Interesse an der Entfachung des Feuers: Hamas, um sich innerpalästinensisch zu profilieren. Hisbollah als verlängerter Arm Irans, um die G 8-Konferenz auf bestimmte Bahnen zu lenken. Syrien, weil es seine angeschlagene Präsenz in Libanon deutlich zu machen trachtete. Die USA, die Israel als Partner im »Kampf gegen den Terror« sehen, damit Iran und Syrien eins ausgewischt bekommen. Und Israel, weil es schon lange danach dürstet, im Gaza-Streifen und in Libanon wieder einmal »Ordnung« machen zu dürfen. Die entführten Soldaten spielen längst eine untergeordnete Rolle.

Israel zeigt sich entschlossen, die Hisbollah und Hamas militärisch auszuschalten. Zivile Opfer werden auch in der eigenen Bevölkerung in Kauf genommen. Kann die Rechnung aufgehen?

Wenn die israelische Regierung letztlich das bekommen wird, was sie will, dann wird die Rechnung aufgegangen sein. Ob sie es kriegen wird, steht zur Zeit freilich noch in den Sternen geschrieben. Denn die Hisbollah erweist sich als eine immens starke und effektive Organisation, die nicht leicht unterzukriegen ist. Und da die israelische Regierung vorerst keinen massiven Einsatz von Bodentruppen möchte, wird eine militärische Entscheidung nicht leicht herbeizuführen sein. Um die zivilen Opfer kümmert man sich auf beiden Seiten einen Dreck. Die haben Politiker und Militärs in letzter Rechnung noch nie interessiert. Das macht ja die gegenwärtige Aktion wieder so barbarisch.

Welche Rolle spielen die USA?

Als »Vermittlungsinstanz« spielen die USA diesmal eine eher erbärmliche Rolle. Da sie weder mit Iran noch mit Syrien reden wollen, haben sie so gut wie keinen Einfluss auf zwei zentrale Protagonisten der gegenwärtigen Krise. Aus geopolitischen Gründen sind aber die USA objektiv am Gewaltausbruch interessiert, denn für sie leistet Israel einen Beitrag im »Kampf gegen den Terror« und gegen zwei Staaten auf der »Achse des Bösen«. Deshalb unterstützen sie die Israelis vorerst noch vorbehaltlos. In Wirklichkeit geht es den Vereinigten Staaten aber um die Festigung ihrer Hegemonialstellung in der Golfregion. Das wird aber, wie immer, nicht ausgesprochen und schon gar nicht debattiert.

Die Rechte in Israel fühlt sich in ihrer Position bestätigt, dass die Räumung des Gaza-Streifens Israel geschwächt und die Lage im Nahen Osten destabilisiert hat. Führt der Krieg zu einer innenpolitischen Kräfteverschiebung zugunsten der Siedlerbewegung?

Das gilt es noch abzuwarten. Die Siedlerbewegung sitzt ja zur Zeit in der Opposition. Und die Regierung wird sich hüten, ihnen zu willfahren. Israels Ministerpräsident Ehud Olmert behauptet, er möchte mit seinen Plänen in der Westbank fortfahren. Ob er das können wird, ist freilich nicht ausgemacht, denn die eigentliche Debatte zwischen den Lagern wird erst ausbrechen, wenn die gegenwärtige Krise überwunden ist. Was allerdings Olmerts Vorhaben an sich zu bedeuten hat, muss noch extra erörtert werden – es ist nichts, was das linke Herz erfreuen kann, und ganz gewiss kein Beitrag zur dauerhaften Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern.

Ist der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern gescheitert?

Wer kann schon eine solche Frage apodiktisch beantworten? Wenn mit dem Friedensprozess »Oslo« gemeint ist, dann darf er in der Tat als begraben gelten. Das will aber nichts für die Zukunft besagen. Denn ohne Frieden gibt es keine Zukunft, weder für Israel noch für die Palästinenser noch für den gesamten Nahen Osten.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juli 2006


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