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Nepals letzte Chance

Regierungschef ruft alle Parteien zur gemeinsamen Lösung nationaler Hauptaufgaben auf

Von Hilmar König *

Der Ende August gewählte neue Premier Baburam Bhattarai nimmt mit einer 13köpfigen Delegation an der 66. UNO-Vollversammlung in New York teil. Kurz vor seiner Abreise betonte er bei seinem ersten Auftritt vor dem Verfassungskonvent, dem provisorischen Parlament in Kathmandu, daß Nepal von jetzt ab nicht mehr als »Pufferstaat« zwischen Indien und China handeln will, sondern als »Freundschaftsbrücke«. Deshalb werde er sich am Sitz der Vereinten Nationen mit seinem indischen Amtskollegen sowie dem chinesischen Präsidenten zu einem Meinungsaustausch treffen.

Das war der wichtigste außenpolitische Akzent in seiner Rede. Vornehmlich befaßte sich Bhattarai, der an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi studiert hat und von Beruf Ingenieur ist, mit brennenden innenpolitischen Problemen. Es sagte, wenn die Übergangsphase, in der sich die junge Republik seit dem Sturz der Monarchie im Jahre 2008 befindet, jetzt nicht beendet werde, bestehe keine »Rettung vor einer politischen Katastrophe«. Er sehe als letzte Chance für die verschiedenen politischen Parteien, in Frieden zusammenzuarbeiten. Dazu gebe es keine Alternative. Sonst drohe der Bevölkerung, zurück in den bewaffneten Konflikt, in einen »Teufelskreis von Gewalt«, gezerrt zu werden. Wenn seine Regierung versage, versage das ganze Land. Nepal stehe an einem »Kreuzweg seiner Geschichte«.

Im Jahre 2006 beendete die maoistische Guerilla nach zehn Jahren ihren Kampf gegen die Monarchie und gegen die feudalistischen Verhältnisse. Sie schloß ein Friedensabkommen mit den etablierten politischen Parteien. Bei den ersten freien Wahlen nach der Absetzung von König Gyanendra Shah Dev gewann die KP Nepals (Maoistisch) die meisten Mandate und bildete die erste Regierung der Republik. Baburam Bhattarai fungierte darin als von allen Seiten geschätzter Finanzminister. Doch in dem anschließenden Machtgerangel, in dem die bürgerliche Partei Nepali Congress (NC) und die KPN (Vereinte Marxisten und Leninisten) die Hauptrollen spielten, mußte der damalige Premier Pushpa Kamal Dahal Prachanda, der Chef der maoistischen Partei, zurücktreten. Es folgte bis zum August 2011 eine Phase der Instabilität, in der keines der angestrebten Ziele erreicht wurde. Der neue Premier regiert mit der Unterstützung von fünf Madhesi-Parteien und einigen kleineren Koalitionspartnern. Die Madhesi-Parteien vertreten die Interessen der südlichen, fruchtbaren Terai-Region. Opposition betreiben KPN (VML) und NC sowie der Flügel der Hardliner der Vereinten KPN (Maoistisch), der Bhattarai angehört.

Der bestimmende Eindruck nach fast einem Monat Amtszeit ist, daß der Neue Nägel mit Köpfen zu machen beabsichtigt. Das unterscheidet ihn von seinen Amtsvorgängern, die aus der KPN (VML) kamen. Auf ihn richten sich jetzt die Hoffnungen des 29-Millionen-Volkes. Als Hauptaufgaben bezeichnete er, den Friedensprozeß zu einem logischen Abschluß zu bringen. Den Verfassungskonvent forderte er auf, Tag und Nacht an der Fertigstellung des Verfassungsentwurfs zu arbeiten. Für die soziale Rehabilitation der noch immer in Kasernen internierten Angehörigen der einstigen Volksbefreiungsarmee stellte er einen Zeitplan auf. Und für die Ärmsten, für Minderheiten und Konfliktopfer gibt es ein Soforthilfeprogramm.

Das alles kann freilich nur gelingen, wenn die Kontrahenten in den anderen politischen Parteien mitziehen. Ob das erreicht wird, ist die entscheidende Frage. Der Regierungs­chef glaubt, daß sich seine Partei »sehr flexibel und verantwortungsbewußt« zeigt, während er dem NC und den Marxisten-Leninisten bescheinigt, sich bislang »stur, orthodox und unverantwortlich« zu verhalten. Er erwartet von ihnen, sich in einem »System konkurrierender politischer Parteien« aus nationaler Verantwortung für die Lösung der nationalen Hauptaufgaben zu engagieren. Bhattarais Regierung steht unter Zeit- und Erfolgsdruck, denn am 30. November läuft die mehrmals verlängerte Frist für das Bestehen des Verfassungskonvents aus. Bis dahin muß der 57jährige die Weichen so gestellt haben, daß es nicht mehr zur »politischen Katastrophe« kommen kann.

* Aus: junge Welt, 22. September 2011


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