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Nepals langer Weg

Vom maoistischen "Volkskrieg" zur "Volksherrschaft": Eindrücke aus einem Land im Umbruch

Von Norman Paech *

Derzeit erscheint kaum eine Ausgabe der englischsprachigen Tageszeitung The Himalayan in Kathmandu, in der Maoistenführer Pushpa Kamal Dahal, genannt Prachanda (der Mächtige), nicht in den Schlagzeilen auftaucht. Nepal befindet sich inmitten der Turbulenzen eines gesellschaftlichen Umbruchs, und der graduierte Agrarökonom Prachanda bestimmt mit seiner Communist Party of Nepal/Maoist (CPN-maoist) sowohl Richtung als auch Geschwindigkeit der Veränderungen.

Nach 25 Jahren im Untergrund und zwölf Jahren »Volkskrieg« sprach Prachanda am 13. Februar 2007 zum ersten Mal auf einer Massenveranstaltung in der Hauptstadt. Dabei wiederholte er vor Hunderttausenden seine Forderungen, die den Aufstand über die Jahre beflügelt hatten – Abschaffung der Monarchie an erster Stelle. Aber auch: entschädigungslose Enteignung der königlichen Ländereien, Landreform mit Umverteilung an die landlose Bevölkerung und Obergrenze des Besitzes an Grund und Boden. Zudem verlangt Prachanda eine »mixed economy« auf der Basis nationaler Interessen, den Einzug der Vermögen, die auf ausländischen Banken deponiert sind, eine Zerstörung des »Spinnennetzes« von Korruption sowie ein Wahlrecht, das auch den bisher ausgegrenzten Gruppen und Ethnien, den Frauen und den Dalit (Unberührbare) gleiche Rechte und die Beteiligung am politischen Leben einräumt.

Die CPN-maoist befindet sich auf dem Weg vom bewaffneten Kampf zur parlamentarischen Gewalt der bürgerlichen Institutionen. Politisch auf der Strecke blieb das Königshaus. Dessen Überlebtheit war bereits 2001 spektakulär als Familiendrama aufgeführt worden, als der vom Kronprinz im Drogenrausch ermordete König Binendra von dessen jüngerem Bruder Gyanendra beerbt wurde. Heute verläßt der unbeliebte König, der vor neun Monaten von einer Massenbewegung inklusive der Guerilla gestürzt worden war, nur noch höchst selten seinen luxuriösen Palast. Tut er es doch, wird seine Wagenkolonne mit Steinen beworfen. Inzwischen mußte Gyanendra nicht nur den Oberbefehl über die Armee abgeben – seine Diktatur endete, und der Zusatz »Königreich« verschwand aus dem Namen des Landes. Dieser Tage wurde sein gesamter Landbesitz enteignet.

Der drastische Statusverlust der Monarchie wurde von der politischen Annäherung der heute regierenden Sieben-Parteien-Allianz (SPA) noch beschleunigt. Zur SPA gehören der Nepali Congress des Regierungschefs Girija Prasad Koirala und die Kommunstische Partei/Vereinte Marxisten-Leninisten (CPN-ML) von Madhav Nepal. Sie beschloß im Juni 2006 ein Acht-Punkte-Programm, das die Grundlage für das Friedensabkommen vom 21. November 2006 bildete. Die Parteien vereinbarten eine »endgültige Überleitung« der Monarchie zur Republik sowie tiefgreifende sozialökonomische Veränderungen: Landreform, Förderung der unteren Kasten, Bekämpfung der Korruption, Wiedereingliederung der maoistischen Kämpfer in die Armee, gleiches und faires Wahlrecht für alle. Die Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung im Sommer 2007 werden von einem Interimsparlament vorbereitet, in dem die Maoisten 22 Prozent der Sitze erhielten, was 73 Abgeordneten entspricht. Ob sie noch an der Interimsregierung beteiligt werden, hängt vor allem davon ab, ob das von der UNO kontrollierte »Waffenmanagement« erfolgreich abgeschlossen werden wird. Dieses sieht die Abgabe der Waffen beider Seiten – Armee und Guerilla – sowie die Kantonierung der maoistischen Kämpfer vor.

Wenn der Plan der Maoisten gelänge, den bewaffneten Kampf durch eine »Parlamentarisierung« innerhalb eines Jahres zu Geschichte werden zu lassen, wäre das eine erstaunliche Leistung. Derzeit allerdings ist das Mißtrauen auf allen Seiten allgegenwärtig. Wechselseitige Anschuldigungen der Korruption, der Verfolgung eigennütziger Interessen und der Blockade des Friedensprozesses kursieren. In den Zeitungen wird täglich über Zusammenstöße, Überfälle, Zwangsverpflichtungen und Erpressungen berichtet. Nicht nur den Maoisten werden Gewalttaten vorgeworfen. Die jüngsten Aufstände der Madhesi im Terai, dem Gebiet an der 1600 Kilometer langen Grenze zu Indien, wurden von kleineren bewaffneten Gruppen unterstützt.

In diesem dichtbesiedelten Gebiet leben etwa 40 Prozent der Bevölkerung Nepals. Die Menschen dort fühlen sich – ebenso wie zahlreiche andere ethnische Gruppen der Bergregionen – seit Urzeiten vom Zentrum in Kathmandu unterdrückt und benachteiligt. Sie sind kaum in den nationalen Institutionen repräsentiert, vier Millionen im Terai besitzen wegen ihrer indischen Herkunft nicht einmal die nepalesische Staatsangehörigkeit. Die Unzufriedenheit äußert sich auch in sezessionistischen Forderungen – vor allem aber geht es um ein Ende der Diskriminierung. Sowohl die Gruppen und Parteien der »Nepal Federation of Indigenous Nationalities« als auch des »Madhesi Janadhikar Forum« verlangen einen säkularen, demokratischen und republikanischen Staat Nepal, gleiches Wahlrecht mit Wahlbezirken, die die heterogene Bevölkerungsstruktur berücksichtigen, und eine föderale Autonomie mit legislativen, exekutiven und judikativen Rechten.

Im Zentrum des politischen Geschehens stehen nun die Vorbereitungen der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Diese sind Ende Juni – vor Beginn des Monsuns – vorgesehen. Bisher kleben nur die Plakate Prachandas an den Häuserwänden. Die Entwaffnung der Guerilla ist noch nicht abgeschlossen, und die Parteien streiten vor allem um das Wahlrecht. Prachanda droht mit Massendemonstrationen sowie einer einseitigen Ausrufung der Republik, falls der Urnengang auf einen Termin nach Ende des Monsuns, also Mitte Oktober, verschoben wird. Während die Europäische Union bereits jetzt ein Team zur Vorbereitung einer Wahlbeobachtung nach Nepal gesandt hat, wird der Juni-Termin für die Abstimmung immer unwahrscheinlicher.

Die Situation im Land ist folglich höchst labil, und nicht ohne Grund dominieren die Maoisten aktuell die Schlagzeilen der Zeitungen: Von ihrer Disziplin hängt entscheidend der weitere Weg in eine parlamentarische Demokratie ab. Prachanda, selbst aus dem Terai, macht einen überlegten, rationalen und überzeugenden Eindruck. Er hat ein klares demokratisches Programm, dem man nur vor dem Hintergrund der alten verkommenen monarchischen Gesellschaft Radikalität nachsagen kann. Unklar ist indes, was bei durchaus möglichen handfesten Auseinandersetzungen geschehen wird: Eine Gesellschaft, die so lange mit Gewalt beherrscht und geknebelt wurde, übersteht ihre Veränderung nicht ohne Gewalt. Sie wird noch lange Zeit von Entwicklungsrückschlägen heimgesucht werden, und der Übergang von den alten königlichen Kasernen in die neuen parlamentarischen Gebäude ist nicht mit der neuen Verfassung und dem Wahlrecht abgeschlossen, sondern erfordert einen langdauernden Prozeß des Lernens und der Praxis.

Zum Glücksfall für das Land könnte die Tatsache werden, daß im nepalesischen Boden keine jener Ressourcen liegen, die die USA und die anderen NATO-Staaten begehren. Die westlichen Staaten haben zwar ihre Unterstützung für die Monarchie nie verheimlicht, doch bedroht die neue Zeit, die inzwischen in Nepal angebrochen ist, keine ihrer vitalen Interessen. Verteidigungsminister Franz Josef Jung braucht also nicht auf die Idee zu kommen, deutsche Interessen nun auch am Himalaya verteidigen zu müssen.

Das Land benötigt endlich Demokratie. Auf dem Weg dorthin sollte es nur jene Hilfe erfahren, die es selbst haben will.

* Prof. Dr. Norman Paech, Mitglied des Bundestages, außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke, besuchte Nepal Mitte Februar im Rahmen einer deutschen Parlamentarierdelegation

Aus: junge Welt, 6. März 2007
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