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Opferzahl steigt in Nepal

Mediziner warnen nach Erdbeben vor Gefahr von Krankheiten

Von Thomas Berger *

Die Opferzahlen sind nach dem Erdbeben in Nepal am Sonnabend auf rund 3.900 Tote gestiegen. Das teilte am Montag das Innenministerium in Kathmandu mit. Mindestens 6.800 Menschen seien verletzt worden. Das Einsetzen von starkem Regen erschwert Rettungsmaßnahmen im Katastrophengebiet.

Auch in den Nachbarländern sind Opfer zu beklagen. So starben laut Nachrichtenagentur dpa in Indien 62 Menschen und in China mindestens 20. Das Erdbeben vom Sonnabend mittag hatte eine Stärke von 7,8 auf der Richterskala. Das Epizentrum lag etwa 80 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kathmandu.

Große Teile der Infrastruktur von Nepal sind beschädigt oder zerstört. Vor allem der Zusammenbruch des Mobilfunknetzes und der Stromleitungen erschwert die Arbeit in- und ausländischer Helfer. Neben der Wasserversorgung ist auch die Müllabfuhr im Kathmandu-Tal stark eingeschränkt. Mediziner warnten deswegen am Montag vor dem Ausbruch von Krankheiten.

Immer wieder gibt es Nachbeben. Die Menschen trauen sich aus Angst vor weiteren Einstürzen nicht in ihre Häuser. Viele Gebäude wurden aus Ziegeln errichtet und hielten den Erschütterungen nicht stand. Die obdachlos gewordenen Menschen schlafen in Parks in Zelten. Premierminister Sushil Koirala appellierte laut dpa an seine Landsleute, alle Läden und Apotheken offenzuhalten, um die Versorgung mit dem Nötigsten sicherzustellen.

Während rund um Kathmandu die Aufräumarbeiten begonnen haben, sind abgelegene Gebiete noch immer schwer zu erreichen. Auch die zahlreichen Helikopter der Armee, die seit Sonnabend zu Bergungs- und Rettungsflügen im Einsatz sind, können an diesem Problem nur wenig ändern. Eine Ausnahme ist die bei westlichen Touristen beliebte Region rund um den Mount Everest.

Der Bergsteiger Reinhold Messner kritisierte, es gebe eine »Zweiklassenrettung«. »Es ist zynisch, dass man um die Bergsteiger am Mount Everest, die sich für 80.000 bis 100.000 US-Dollar diese Besteigung kaufen können, einen solchen Hype macht«, sagte er dem Sender hr-Info. In erster Linie müsse man den rund 6,6 Millionen Menschen im dichtbesiedelten Kathmandu-Tal helfen und nicht den Bergsteigern.

Die EU stellte zusätzlich zu den Hilfsangeboten der einzelnen Mitgliedsländer drei Millionen Euro zur Verfügung. Am dringendsten würden medizinische Helferteams und Nothilfelieferungen benötigt, erklärte laut dpa der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe, Christos Stylianides. Außerdem versprach die Asiatische Entwicklungsbank drei Millionen US-Dollar für Zelte, Medikamente und Trinkwasser. Die nepalesische Regierung hat einen Nothilfefonds aufgelegt.

Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF geht in einer aktuellen Stellungnahme von bis zu einer Million Kindern in Nepal aus, die durch die Erdbebenkatastrophe gefährdet sind. Bildungseinrichtungen im Land, hatte die Regierung noch am Sonntag verfügt, bleiben mindestens fünf Tage lang geschlossen – Unterricht wäre mancherorts ohnehin kaum möglich.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 28. April 2015


Lawine in Nepal verschüttet möglicherweise 250 Menschen

Rund 250.000 Menschen haben bereits Nepals Hauptstadt Kathmandu verlassen / Regierung räumt ein, nicht ausreichend vorbereitet gewesen zu sein **

Sie sitzen dicht gedrängt auf Bussen, in Lastwagen und auf Motorrädern: Hunderttausende Menschen verlassen nach dem Erdbeben Nepals Hauptstadt. Dort gibt es nur wenig Wasser und Essen. Doch Helfer sagen: Auf dem Land ist es nicht besser.

Update 16:59 Uhr: Bei einem weiteren Lawinenabgang nach dem schweren Erdbeben in Nepal sind am Dienstag möglicherweise rund 250 Menschen verschüttet worden. Die Lawine sei in Ghodatabela an der beliebten Trekking-Route Langtang ins Tal gerast, sagte ein Behördenvertreter. In der Nähe lag das Zentrum des Bebens vom Samstag, das weite Regionen des Himalaya erschütterte und mehr als 5000 Menschen tötete.

Dass nun weitere 250 Menschen verschüttet wurden, sei eine »vorläufige Schätzung«, sagte Behördenvertreter Uddav Prasad Bhattarai. Es sei möglich, dass auch ausländische Touristen betroffen seien. Die Langtang-Route liegt nicht weit von Kathmandu entfernt. Doch gebe es wenig Informationen, weil die Gegend nicht leicht zugänglich und die Kommunikation schwierig sei. Die Rettungsbemühungen seien angelaufen, würden aber vom schlechten Wetter behindert.

Nepals Regierung nach Erdbeben überfordert

Nach dem schweren Erdbeben haben Hunderttausende Menschen Nepals Hauptstadt Kathmandu verlassen. Eine Viertelmillion habe sich in den vergangenen Tagen auf den Weg gemacht, sagte ein Sprecher des Transportministeriums. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind etwa acht Millionen Menschen von den Folgen der Katastrophe betroffen, davon bräuchten 1,4 Millionen Menschen Nahrungsmittel. Die Zahl der Erdbeben-Toten in der Himalaya-Region stieg auf mehr als 4700. Unter den Todesopfern ist auch ein Professor der Göttinger Georg-August-Universität, wie ein Sprecher der Hochschule mitteilte. Nepals Regierung räumte erstmals öffentlich ein, trotz zahlreicher Warnungen vor einem bevorstehenden großen Beben nicht ausreichend vorbereitet gewesen zu sein.

»Wir haben nicht genügend Mittel, und wir brauchen mehr Zeit, um alle zu erreichen«, erklärte Innenminister Bam Dev Gautam im staatlichen Fernsehen. Die Behörden hätten Schwierigkeiten, die Krise zu meistern. »Wir waren auf ein Desaster dieses Ausmaßes nicht vorbereitet.« Nepal ordnete drei Tage Staatstrauer an.

Die Flüchtlinge fühlten sich wegen der Nachbeben in der Stadt unsicher, sagte Roland Steurer, Nepal-Landesbüroleiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) am Dienstag. Die Menschen wollten bei Verwandten in Landesteilen unterkommen, die von der Katastrophe verschont blieben, oder wissen, wie es ihren Angehörigen und den Häusern auf dem Land gehe.

Sie waren in überfüllten Bussen, auf Lastwagen oder Motorrädern unterwegs. Oft zahlten sie den vierfachen Preis, oder kämpften mit Händen und Füßen um einen Platz - so wie Sita Bisural. »Mein Mann ist verletzt und unser Haus auf dem Land ist teilweise zerstört«, sagte die 40-Jährige. Auch halte sie nichts in der Stadt: Ihr Geschäft ist in sich zusammengefallen.

Hilfsorganisationen gehen aber davon aus, dass die Lage in den entlegenen Gebieten Nepals noch viel schlimmer ist als in der Hauptstadt. Laxman Shrestha aus Sindhupalchok, einem der am schlimmsten getroffenen Gebiete, sprach von großer Zerstörung. »Ganze Dörfer in unserer Region wurden ausgelöscht. Sie sind weg, und keiner weiß, wie viele Menschen begraben wurden.«

Die Wut in der Bevölkerung auf die Regierung wächst. Denn viele Menschen - sogar in Kathmandu - beklagen, dass sie noch gar keine oder kaum Unterstützung erhalten haben. »Wir leben hier auf der Straße, ohne Essen und Wasser, und wir haben in den vergangenen drei Tagen (seit dem Beben) keinen einzigen Beamten gesehen«, sagte ein Mann, der mit seiner Familie im Freien campierte. Die meisten leben unter Planen in Parks, öffentlichen Plätzen oder auf den Straßen.

Zusätzlich leiden die Einwohner weiter unter Nachbeben. Die Stromversorgung ist zusammengebrochen, so dass weder Wasserversorgung noch Telekommunikation gut funktionieren. »In unserer Gegend gehen die Lebensmittel aus. Die Läden sind so gut wie nicht geöffnet. Und wenn sie doch aufmachen, gibt es einen Ansturm, und alles ist binnen Minuten weg«, beklagte ein Überlebender. Die Menschen kritisieren auch, ihnen mangele es an Gas zum Kochen. Vor Tankstellen bildeten sich lange Schlangen.

So dringend internationale Hilfe benötigt wird - sie kommt kaum durch. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) konnte seinen bereits für den Montagabend geplanten Hilfsflug nach Nepal auch am Dienstagvormittag nicht starten. Der Luftraum sei zu voll. An Bord der Maschine sind 60 Tonnen Hilfsgüter im Wert von 670 000 Euro, darunter Zelte, Decken und Hygienepakete. Der französische Außenminister Laurent Fabius sagte, der Flughafen Kathmandu sei noch immer völlig verstopft. Der einzige internationale Airport Nepals hat nur sechs Parkpositionen. Maschinen mit Hilfsgütern und Helfern müssen deswegen immer wieder umkehren. Viele Touristen können nicht ausfliegen.

Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen schicken auch Teams über den beschwerlichen Landweg in die betroffenen Gebiete. Von Indiens Hauptstadt Neu Delhi dauert es drei bis fünf Tage. Das Erdbeben der Stärke 7,8 hatte am Samstag große Teile Nepals sowie die angrenzenden Länder Indien und das chinesische Tibet getroffen. In Nepal stieg die Zahl der Toten auf rund 4700. Auf chinesischer Seite starben 25 Menschen, in Indien 72 Menschen. Es wird befürchtet, dass dort noch mehr Menschen ums Leben gekommen sind. Viele Straßen sind noch blockiert und Telekommunikationsverbindungen unterbrochen.

Der ums Leben gekommene deutsche Professor befand sich nach Angaben der Universität Göttingen mit 15 Studenten und einem weiteren Wissenschaftler auf einer Exkursion nordwestlich von Kathmandu, als die Gruppe vom Erdbeben überrascht wurde. Der 67-jährige Matthias Kuhle sei in einer engen Schlucht von herabstürzenden Felsmassen getroffen und tödlich verletzt worden, erklärte seine Familie. Einige der Studierenden wurden leicht verletzt. Zu etwa 100 Deutschen in Nepal besteht derzeit kein Kontakt. Ein Krisenstab kümmere sich, versicherte das Auswärtige Amt.

Am Mount Everest konnten inzwischen fast alle Bergsteiger gerettet werden. Dort hatte eine Lawine Teile des Basislagers zerstört. Viele Bergsteiger saßen außerdem in Höhencamps fest, weil die Abstiegsroute zerstört war. Die Polizei sprach von 17 Menschen, die am höchsten Berg der Welt gestorben seien. Ein Sprecher der Tourismusbehörde gab die Zahl mit mindestens 20 an. Das indische Militär, das bei der Rettungsaktion mithalf, sprach von 22 Toten. In jedem Fall ist es das schlimmste Unglück in der Geschichte des Everest-Bergsteigens.

Bekannte Bergsteiger hatten kritisiert, dass zunächst den Ausländern am Mount Everest geholfen werde. Der Politikwissenschaftler Malte Schönefeld von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald erklärte, da spielten auch immer Machtfragen eine Rolle. »Nach einem solchen Erdbeben ist die Situation vollkommen chaotisch. In der Frage der Priorisierung von Hilfsmaßnahmen spielt auch eine Rolle, wer - im übertragenen Sinne - noch am lautesten schreien kann«, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. »Das sind aber nicht die wirklich Hilfsbedürftigen.«

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. April 2015


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