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Unvollendete Revolution

Beim dritten Anlauf zur demokratischen Umgestaltung Nepals nach 1951 und 1990 zeigen sich die altbekannten Probleme und Herausforderungen

Von Thomas Berger *

Jeden Morgen setzt sich Narayan in den Bus und fährt die 25 Kilometer von seinem Heimatdorf Banepa in die Hauptstadt Kathmandu. Er ist blind, und wenn er am Ziel eintrifft, kämpft er sich mit wachem Gehör und mit seinem Stock tastend bis zu seinem Stammplatz kurz vor einer Fußgängerbrücke vor. Dann öffnet der 30jährige seine Tasche und holt daraus eine Personenwaage hervor. Seine wirtschaftliche Existenz hängt daran: Fünf Rupien (umgerecht dreieinhalb Cent) bekommt er von jedem, der einen Kontrollblick auf seine Kilos haben will, im Glücksfall etwas mehr. Am Ende reicht das mehr schlecht als recht, um sich und seine Familie durchzubringen: seine Frau, durch eine verkrümmte Hand sehr eingeschränkt, und die kleine Tochter, die er bisher immerhin zur Schule schicken kann. Narayan hadert nicht mit seinem Schicksal. Aber eine Chance auf richtige Arbeit, die erhofft er sich schon. Immerhin kann er den Abschluß der 12. Klasse vorweisen – damit hat er deutlich länger die Schulbank gedrückt als viele seiner Landsleute gleichen Alters.

Narayan gehört zur Generation derer, die an die Wandlungsprozesse in Nepal während der vergangenen Jahre besonders große Erwartungen geknüpft haben. Das Ende des Bürgerkrieges zwischen Staat und maoistischer Guerilla, die Abschaffung der zweieinhalb Jahrhunderte währenden Monarchie beinahe über Nacht, die Umwandlung des hinduistischen Königreiches in eine Republik: Was sich da vor allem zwischen 2006 und 2008 vollzog, war eine Entwicklung, die Einwohnern wie Beobachtern streckenweise den Atem nahm. Inzwischen ist nicht nur bei Narayan Ernüchterung eingekehrt. Die Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung zugunsten der breiten Massen und mehr soziale Gerechtigkeit wurden nicht erfüllt. Es ist vor allem die politische Stagnation, die fortgesetzte Selbstblockade der großen Parteien, die viele Bürger mit Wut, wenn nicht gar Verachtung oder Haß auf ihre an sich demokratisch legitimierten Staatsführung blicken läßt.

Doch während Leute wie Narayan vor allem die ausgebliebenen sozioökonomischen Fortschritte vermissen, haben Aktivisten wie Dandu Sherpa ganz andere Punkte im Blick. Sherpa ist 42, stammt aus einem Bergdorf nahe der Grenze zu China, wo seine Eltern wie seit alters her als Yakhirten leben, und ist Vizepräsident der Nepal Federation of Indigenous Nationalities (NEFIN). Der Bewegung für den Kampf um Gleichberechtigung der diversen indigenen Gruppen seit zwei Jahrzehnten verbunden, hofft er einerseits wie die Mehrzahl seiner Landsleute, daß die neue Regierung unter Premierminister Sushil Koirala (74) eine stabile sein wird. Nicht der Exekutive, sondern der – nunmehr zweiten – verfassunggebenden Versammlung gilt aber sein Hauptaugenmerk. Denn dort werden die Weichen für die Zukunft des Himalayastaates gestellt. Dabei sollen traditionell marginalisierte Bevölkerungsgruppen nicht erneut weitgehend ausgeschlossen werden – dafür setzen sich der NEFIN-Vertreter und seine Mitstreiter ein.

Dandu Sherpa gibt sich betont kämpferisch. Die erste verfassunggebende Versammlung von 2008, deren Mandat mehrfach verlängert wurde, habe gute Vorarbeit geleistet. »Auch in Sachen föderaler Neustrukturierung lag da kurz vor Ende ein ordentlicher Vorschlag auf dem Tisch«, sagt er. Denn aus dem Zentralstaat mit der Fokussierung auf Kathmandu, zumindest soviel ist Konsens zwischen den konkurrierenden Parteien und Bewegungen, soll ein Gebilde mit mehreren Bundesstaaten werden, die etliche autonome Entscheidungsbefugnisse haben. Wie viele solcher Staaten allerdings entstehen sollen, darüber gehen die Meinungen auseinander. »Wir brauchen wenigsten 14 bis 15«, gibt deren Vizechef die Forderung der NEFIN wieder. Nur bei dieser Zahl sei gewährleistet, daß die traditionell tonangebenden Volksgruppen – allen voran Chhetri und Bahun – nicht weiterhin nahezu alle Schlüsselpositionen besetzten. Die stärkere Dezentralisierung müsse sich bei Grenzziehungen aber an den Siedlungsgebieten bestimmter Gemeinschaften orientieren.

Was weder der erblindete Narayan noch Indigenenaktivist Sherpa so deutlich aussprechen: Es geht bei der Verfassungsdebatte und beim Umbau des Landes um nicht weniger als den dritten Versuch, jene demokratische Revolution zu vollenden, deren Vorläufer bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichen. Wer das heutige Nepal mit seinen Konflikten, Chancen und Sorgen verstehen will, der kommt nicht umhin, diese Zeitreise anzutreten. Gelingt es nicht, aus der Vergangenheit zu lernen und bisherige Hemmnisse zu überwinden, so lehrt die Geschichte, droht sich das Scheitern vor sechs und vor zwei Jahrzehnten zu wiederholen.

Geburtsstunde Nepals

Als Nationalstaat ist Nepal vergleichsweise jung. Erst 1768 gelang es dem aus dem kleinen Gorkha stammenden Prithvi Narayan Shah, die diversen Fürstentümer im südlichen Himalaja unter seiner Führung zu einen. Nepal entwickelte sich später zu einem Spielball vor allem zweier Clans: Der Shahs, welche die Könige stellten, und der Ranas, die als deren Regierungschefs über weite Strecken die eigentliche Macht im Land ausübten. Gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die nominellen Staatsoberhäupter zu völligen Marionetten ihrer Rana-Premierminister geworden.

Der Staatsgründer hatte bei seinen Eroberungsfeldzügen nicht nur die blühenden drei Malla-Königreiche im Kathmandutal unterworfen (Kathmandu, Patan und Bhaktapur), sondern Nepal durch Zugewinne im Osten, Westen und Süden auf knapp das Doppelte seiner heutigen Fläche ausgedehnt. Die Expansion kollidierte mit den Interessen der britischen Ostindien-Kompanie. Der Anglo-Nepalesische Krieg 1814–16 schließlich führte zu einer Fixierung der Grenzen, die bis heute Bestand haben. Keiner der beiden Kriegsgegner ging wirklich als Sieger hervor. Nepal mußte zwar empfindliche Gebietseinbußen und zudem einen britischen Gesandten (Resident) am Königshof hinnehmen. Gleichwohl wurde das Land nicht kolonisiert, sondern diente im geostrategischen Machtkampf als Puffer zwischen chinesischem und britischem Einflußbereich.

Indiens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erstarkende Unabhängigkeitsbewegung unter Führung der Kongreßpartei (INC) von Mohandas Karamchand »Mahatma« Gandhi und Jawaharlal Nehru wurde gewissermaßen zum Vorbild für erste Gruppen, die im kleinen nördlichen Nachbarland mit einer bürgerlich-demokratischen Revolte das autokratische Herrschaftssystem der Ranas stürzen wollten. Der Nepali Congress (NC) entstand 1950 mit der Verschmelzung der beiden drei bzw. zwei Jahre älteren Vorläuferorganisationen zu einer neuen Massenbewegung. Nahezu zur gleichen Zeit gründete sich 1949 die Kommunistische Partei Nepals (CPN) als gemeinsame Keimzelle der heute rund ein Dutzend größeren und kleineren linken Splitterorganisationen. Beide, der gerade in der Anfangszeit stark von Nehrus sozialistischen Konzepten beeinflußte NC wie auch die Kommunisten, stellten sich gemeinsam an die Spitze des bewaffneten Volksaufstandes, der am 11. November 1950 begann. Geeint in der Gegnerschaft zum Rana-Clan gab es dabei auch Unterstützung von König Tribhuvan, der sich fünf Tage zuvor durch eine List samt seiner Familie in die indische Botschaft abgesetzt hatte und von dort ins Exil ging. Nach drei Monaten mußten sich die Ranas geschlagen geben, und im November 1951 wurde NC-Parteichef Matrika Prasad Koirala, schon zuvor in einer Koalitionsregierung mit den Kräften des alten Regimes vertreten, von König Tribhuvan zum Premierminister ernannt. Er war der erste aus dem einfachen Volk.

Königliche Putschisten

Schon die Allianz der linksbürgerlichen Kräfte mit Tribhuvan hielt nicht lange. Erstmals trat auf, was sich später immer wieder als Manko des demokratischen Lagers erweisen sollte: Die Parteien wurden durch interne Machtkämpfe ihrer Anführer geschwächt. Der NC zerbrach zeitweise in drei rivalisierende Teile. Innerhalb einer Zeit von neun Jahren lösten sich ebenso viele Regierungen im Amt ab. König Mahendra, nach dem Tod seines Vaters auf den Thron gelangt, hatte zwar noch 1959 der neuen Verfassung mit demokratischen Grundzügen grünes Licht gegeben, auf deren Basis kurz darauf erste Wahlen stattfanden. Der siegreiche NC durfte aber nicht regieren, weil Mahendra schon 1960 die Parteien wieder in die Illegalität trieb, die Verfassung annullierte und das erste Demokratieexperiment beendete. Für drei Jahrzehnte wurde das Land wieder in feudalistisch-autokratische Zustände zurückgeworfen.

Geschichte wiederholt sich nicht, sagt ein Sprichwort. Dennoch wies die Situation nach der »zweiten demokratischen Revolution« 1990 viele Parallelen auf. Einmal mehr wirkten NC und Linke anfangs Hand in Hand, um sich später untereinander wie auch intern völlig zu zerstreiten. Schon Mitte der neunziger Jahre hatte das Ansehen der Politiker damit insgesamt stark gelitten. Der neue Monarch Gyanendra, der nach dem Palastmassaker 2001 gekrönt wurde [1], nutzte schließlich die Schwäche des demokratischen Lagers, um zur absoluten Macht des Königshauses zurückzukehren.

Schon in den achtziger Jahren hatte sich die kommunistische Bewegung in immer mehr Gruppierungen gespalten. Die CPN-Fraktion mit dem Zusatz Vereinte Marxisten-Leninisten (UML) wurde in den frühen neunziger Jahren zur mit Abstand stärksten linken Kraft. 1991 aus der Vereinigung von CPN (Marxistisch) und CPN (Marxistisch-Leninistisch) entstanden, führte die neue Partei ab Dezember 1994 sogar neun Monate eine Minderheitsregierung und beteiligte sich später an Koalitionen. In diesen Zeiten direkter Einflußnahme setzte allerdings eine schleichende Sozialdemokratisierung ein, die auf der Gegenseite den weiter links stehenden Splittergruppen größeren Zulauf bescherte.

Die Maoisten (CPN-M) verlagerten 1996 schließlich ihren Kampf von der parlamentarischen Bühne endgültig in den Untergrund. Sie waren der Überzeugung, daß eine Gleichberechtigung unterdrückter Bevölkerungsgruppen anders nicht zu erreichen sei. Obwohl der Aufstand mit lediglich zwei alten Gewehren begonnen hatte, weiteten sich die Gefechte zwischen polizeilichen Spezialkräften (Armed Police Force/APF) und maoistischen Guerilleros bald spürbar aus. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung hatten die Vertreter der radikalen Linken in mehr als zwei Dritteln des Landes die Macht des Staates in Frage gestellt, stellenweise sogar parallele Verwaltungsstrukturen aufgebaut. Noch unter König Birendra (1972–2001) hatte der Konflikt eher auf Sparflamme gekocht. Mit dem Machtantritt des zunehmend autokratisch agierenden Gyanendra indes eskalierte er ab 2002 immer mehr und entwickelte sich zum Flächenbrand. Die Opferzahlen stiegen enorm (allein zwischen 2001 und 2002 von 627 auf 4647 Tote, die höchsten Verluste überhaupt). Spätestens 2005 hatten aber beide Seiten endgültig erkannt, daß dieser Kampf – trotz inzwischen offizieller Mobilmachung der Armee – nicht mit militärischen Mittel zu gewinnen war. Doch erst das Zusammengehen der Maoisten mit der sogenannten Sieben-Parteien-Allianz des linksbürgerlichen bis linken parlamentarischen Spektrums eröffnete 2006 die Chance zum Friedensschluß. Die wenigsten hatten damit gerechnet, daß kurz darauf die Monarchie fallen würde. Gleichwohl war es Gyanendra, der der einst mächtigsten Institution des Staates mit seinem neuen Allmachtswahn selbst das Grab schaufelte.

Gesellschaft bleibt gespalten

Die Gründe für den Untergrundkampf der damaligen CPN-M ab 1996 und dafür, daß weite Bevölkerungskreise die maoistischen Guerilleros offen unterstützten oder wenigstens teilweise mit ihnen sympathisierten, liegen in der starken Fragmentierung der nepalesischen Gesellschaft und der Diskriminierung vieler Gemeinschaften bis zum heutigen Tag. Auch im 21. Jahrhundert wird vor allem Madhesis, Dalits und indigenen Gruppen noch immer die gleichberechtigte Teilhabe verwehrt. An der sozioökonomischen wie politischen Hierarchie und der deutlichen Vorherrschaft weniger Gruppen hat sich seit mehr als 150 Jahren, als die Grundlagen dafür fixiert wurden, kaum etwas geändert. Aus dem Jahr 1854, als die Ranas bereits die Macht in ihren Händen konzentrierten, stammt der sogenannte Muluki Ain – ein sozialer Kodex, der damals die feudalistische Gesellschaft des nepalesischen Königreiches in drei große Kasten zwang.

Ganz unten standen die Dalits, laut hinduistischer Überlieferung die »Unberührbaren«, mit allen »unreinen« Tätigkeiten verbunden, die auf die unterste Stufe verbannt wurden. An die Spitze des Kastensystems wurden vor allem Chhetris und Bahun gesetzt, also jene Bevölkerungsgruppe aus dem Mittelgebirgsraum, die auch schon zuvor die »Elite« gebildet hatte. Zugleich wurde bereits mit dem Muluki Ain das Nepali als alleinige Amtssprache festgeschrieben. Das war von vornherein eine Diskriminierung all jener Tieflandbewohner der Terai-Ebenen im Süden, deren Muttersprache zumeist Hindi ist, und der vielen ethnischen Gruppen, die ihre kulturelle Identität nicht zuletzt auf einer eigenständigen Sprache gründen, derer es heute noch 93 sind.

Eine Landreform ist selbst nach den jeweils kurz währenden Siegen der Demokratiebewegung 1951 und 1990 nie ernsthaft in Angriff genommen worden. Bis heute halten sich antiquierte Formen der Abhängigkeit von den »Landlords«, die neutral als Schuldknechtschaft, zugespitzter durchaus als Sklaverei beschrieben werden können. Insbesondere bei den Tharu, einer der indigenen Volksgruppen im Westen des Landes, war es noch bis vor kurzem weit verbreitet, Töchter als sogenannte Kamlari (Dienstmädchen) in die Hände reicher Familien zu geben. Urmila Chaudhary, eine der Betroffenen, hat ihre Leiden nach der Befreiung aus dem Sklavendasein in Buchform verarbeitet.[2]

Allen indigenen Gemeinschaften eignet, daß sie diskriminiert werden und nicht angemessen, nämlich gemäß ihres Bevölkerungsanteils, der insgesamt bei 36 Prozent liegt, repräsentiert werden. Schon in den 1950er Jahren hatten die sogenannten Janapatis, wie diese Menschen bezeichnet werden, begonnen, sich zu organisieren und mehr Rechte zu fordern. Doch auch wenn es heute beispielsweise die NEFIN als Dachorganisation gibt, die Einfluß auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen versucht, so fehlt noch allzu oft ein wirksames Sprachrohr.

Noch schlimmer als den Janapatis erging und ergeht es jedoch der Kaste der Dalits. Zwar mag die »Unberührbarkeit« im engeren Sinne weithin Geschichte sein, doch diese Bevölkerungsgruppe ist mehr als jede andere von politischer wie sozioökonomischer Mitbestimmung ausgeschlossen. Gab es im ersten demokratischen Parlament nach drei Jahrzehnten absolutistischer Königsherrschaft 1991 immerhin eine Handvoll Dalit-Abgeordnete (0,5 Prozent), so schaffte es bei den beiden folgenden Wahlen 1994 und 1999 kein einziger Kandidat aus dieser Gruppe, seinen Wahlkreis zu gewinnen. Aktuell gibt es unter den 601 Volksvertretern der zweiten verfassunggebenden Versammlung, über die im November 2013 abgestimmt wurde, lediglich zwei Dalits.[3] Der NC hatte keinen einzigen Kandidaten aus dieser Gruppe aufgestellt. Und auch die meisten anderen Parteien hatten gegenüber 2008 die ohnehin geringe Quote unter den Bewerbern noch weiter gesenkt. »Ohne die Präsenz der Dalits, die 20 Prozent der Bevölkerung stellen, wird die verfassunggebende Versammlung nicht auf die vielen gravierenden Menschenrechtsverstöße eingehen«, betonte dazu Durga Sob, die Präsidentin der Feminist Dalit Organisation (FEDO).

Die Madhesis fühlen sich in vielfacher Hinsicht ebenfalls abgehängt. Nicht ohne Grund gibt es inzwischen rund ein Dutzend Parteien, die sich dem Kampf um Gleichberechtigung der Tieflandbewohner verschrieben haben. Eben diese Zersplitterung, die in den letzten sechs Jahren weiter zugenommen hat, ist aber auch eine Schwäche. Bei den jüngsten Wahlen mußten die Madhesi-Parteien deutliche Einbußen hinnehmen. Lediglich der Umstand, daß sich derzeit drei der wichtigsten Gruppen auf Vereinigungskurs befinden, nährt im Terai neue Hoffnung.

Generelle Ungleichbehandlung von Dalits, Janapatis und Madhesis, aber auch die weitgehende Ignorierung vieler fernab des Kathmandutals gelegener Distrikte bei der Verteilung von Geldern aus Entwicklungsprogrammen waren der Grund, warum der maoistische Aufstand von Anfang an starke Unterstützung erfuhr. Heute, nachdem die vormaligen Untergrundkämpfer 2006 die Waffen niedergelegt und sich in das politische Establishment eingeordnet haben, fühlen etliche Vertreter dieser benachteiligten Gruppen ihre Interessen auch von der UCPN-M [4] nur noch ungenügend vertreten. Zwar sind die Maoisten noch immer jene Partei, die am vehementesten mehr Rechte für Dalits und Janapatis in der künftigen Verfassung fordert. Aber auch die personelle Führung der zweitgrößten Linksformation ist von Vertretern der traditionell tonangebenden Gruppen dominiert –so progressiv oder »revolutionär« diese sein mögen. Selbst in der am radikalsten für gesellschaftspolitische Veränderungen kämpfenden Kraft haben es Angehörige der benachteiligten Gemeinschaften schwer, bis in Spitzenämter zu gelangen.

Fußnoten
  1. Kronprinz Dipendra lief am 1. Juni 2001 bei einem Abendessen in großer Runde im Palast Amok, erschoß seinen Vater Birendra, seine Mutter, seine Geschwister und mehrere weitere Verwandte, um am Ende die Waffe gegen sich selbst zu richten. Bis auf Dipendras abwesenden Onkel, den späteren neuen Herrscher Gyanendra, wurde nahezu die gesamte königliche Familie ausgelöscht – ein Trauma für die Nation. Etliche Fragen rund um das tragische Ereignis, das mittlerweile in mehreren Büchern nachgezeichnet wurde, sind bis heute ungeklärt.
  2. Urmila Chaudhary, »Sklavenkind«, Knaur-Verlag 2011, ­ISBN 978-3-86800-933-3. Das Kamlari-System wurde zwar 2005 verboten, doch die Tradition lebt fort.
  3. 26 Mandatsträger werden noch von der Regierung ernannt, weshalb derzeit die verschiedenen Minderheiten drängen, ihnen wenigstens einen Teil dieser Sitz zuzusprechen. Interessante Statistiken und Analysen zur Präsenz einzelner Volksgruppen in staatlichen Institutionen liefert auch der Sammelband »Nepal in Transition« (Cambridge University Press 2012, ISBN 978-1-107-65971-1)
  4. Die Vereinigte Kommunistische Partei Nepals – Maoistisch (UCPN-M) ist die Mehrheitsfraktion der einstigen Untergrundbewegung. Die Gruppe der sogenannten Hardliner um Exvizechef Mohan Baidya hat sich 2012 abgespalten und die Wahl boykottiert. Bei dieser fiel die UCPN-M vom Spitzenplatz 2008 mit nur noch 80 Mandaten auf Rang drei hinter NC (196) und CPN-UML (175) zurück.
* Aus: junge Welt, Freitag, 7. März 2014


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