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Abkommen nach Anschlag

Nigeria: Boko Haram weist Verantwortung für Attentat auf Schule zurück. Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet

Von Simon Loidl *

Im Nordosten Nigerias bleiben die Schulen geschlossen. Am Sonntag hatte der Gouverneur des Bundesstaats Yobe, Ibrahim Gaidam, eine entsprechende Anordnung erlassen. Durch die Unterrichtssperre sollen weitere Anschläge auf Schulen verhindert werden. Am Samstag hatten Angreifer ein Internat in der Stadt Potiskum mit Brandsätzen attackiert. Flüchtende Schüler seien erschossen worden, berichteten nigerianische Medien und Nachrichtenagenturen. Mindestens 32 Menschen sollen getötet worden sein, die meisten davon Jugendliche. Die genauen Umstände und Hintergründe des Attentats sind nach wie vor unklar. Internationale Medien zitierten ungenannte »Experten«, die die islamistische Sekte Boko Haram als Angreifer bezeichneten. Als Motiv wurde unter anderem Rache für eine Razzia durch die Armee angeführt. Dabei waren am Donnerstag vergangener Woche in der Region laut Medienberichten 22 Boko-Haram-Mitglieder getötet worden.

Am Montag dementierte ein Sprecher des »Verbandes der Sunniten für Dawa und Dschihad«, wie Boko Haram eigentlich heißt, daß seine Organisation für den Anschlag verantwortlich sei. Die nigerianische Zeitung Vanguard zitierte Imam Muhammadu Marwana, der im Hausa-Programm von Radio France International (RFI) versichert hatte, daß Boko Haram nicht in den »beklagenswerten Angriff« auf die Schule involviert gewesen sei. Zugleich bat Marwana jene um Vergebung, die bei früheren Attentaten Freunde und Verwandte verloren haben. Diese sollen der Sekte verzeihen, so wie diese »all jenen verziehen hat, die Grausamkeiten gegen uns begangen haben«, so Marwana laut Vanguard. Gleichzeitig gab die nigerianische Regierung bekannt, daß ein Waffenstillstandsabkommen mit Boko Haram unterzeichnet worden sei. Mehrere nigerianische Medien zitierten den nigerianischen Minister für für besondere Angelegenheiten, Alhaji Kabiru Turaki, der in derselben RFI-Sendung über die Unterzeichnung berichtete. Turaki ist Vorsitzender eines 25köpfigen Friedens- und Dialogkomitees, das Präsident Goodluck Jonathan im Mai dieses Jahres eingesetzt hatte. Aufgabe des Gremiums war es, Bedingungen für eine Amnestie für Mitglieder von Boko Haram auszuhandeln. Unmittelbar nachdem das Komitee seine Arbeit aufgenommen hatte, entsandte Jonathan allerdings die Armee in die nordöstlichen Bundesstaaten, wo diese eine Offensive gegen die Islamisten startete. In der Folge kam es zu militärischen Angriffen auf Dörfer und zu weiteren Anschlägen. Tausende Bewohner der Region flohen vor den Kämpfen.

Was hinter den Kulissen verhandelt wurde, ist derzeit noch unklar, ebenso, ob die seitens Boko Haram in die Waffenstillstandsverhandlungen involvierten Personen tatsächlich für die gesamte Organisation sprechen. Fest steht aber, daß es neben der international bekannten Sekte zahlreiche weitere islamistische Gruppen in Nigeria gibt, die immer wieder mit Gewaltakten von sich reden machen. Insofern können die derzeitigen Verhandlungen mit Boko Haram auch die grundsätzliche Problematik nicht lösen, daß die angestaute Wut vor allem junger Nigerianer über Armut und fehlende Perspektiven sich weiterhin in Form religiös begründeter Anschläge entlädt.

Die Gespräche zwischen Regierung und Boko Haram sind eher ein weiterer Hinweis auf die starke Rolle, die letztere in den nördlichen Teilen Nigerias bereits spielt. Immer wieder hat es in der Vergangenheit Gerüchte und Hinweise darauf gegeben, daß Mitglieder der Sekte Einfluß bis in höchste politische Kreise haben. Das Dialogangebot der Regierung mit der gleichzeitigen militärischen Machtdemonstration ist somit ein Versuch, Boko Haram mittels Zuckerbrot und Peitsche zu einem Verhandlungspartner zu formen. Sofern sich die Meldungen über ein Waffenstillstandsabkommen bestätigen, scheint die Strategie aufzugehen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. Juli 2013


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