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Wie geschmiert

Nigeria: Untersuchungskommission wirft Regierung und Ölkonzernen Unterschlagung und Betrug vor

Von Christian Selz, Kapstadt *

Umgerechnet 29,4 Milliarden Euro hat Nigeria seit 2005 durch Unterschlagung, Preismanipulationen und Diebstahl im Zusammenhang mit seiner Ölindustrie verloren. Die Beschuldigten sind namhaft, neben der Armee und der Regierung werden auch die Namen internationaler Ölkonzerne genannt. Diese Vorwürfe werden in einem Bericht der staatlichen Untersuchungskommission zu Unregelmäßigkeiten in der Ölindustrie erhoben, der bereits vor seiner offiziellen Vorstellung durch eine undichte Stelle ans Licht der Öffentlichkeit kam. Durch die vorzeitige Publizierung des Reports sei seine Integrität dahin, klagen die einen. Sonst hätte die Regierung die Ergebnisse manipuliert, befürworten andere die frühzeitige Lancierung. In Nigeria ist das eine reale Befürchtung. Erst im September hatte eine Parlamentskommission ihre Untersuchungsergebnisse zu 87 Firmen unter Verschluß gestellt, denen Betrug im Zusammenhang mit Treibstoffsubventionen vorgeworfen wird. Laut der in Lagos erscheinenden Tageszeitung Vanguard, einem der wenigen politisch unabhängigen Blätter des Landes, sollen in der Mehrzahl der Fälle hohe Regierungspolitiker und deren Angehörige unter den Profiteuren sein. Der jetzt öffentlich gewordene Bericht ist jedoch noch brisanter.

Allein 22,4 Milliarden Euro gingen dem Staat verloren, weil der staatliche Erdölkonzern NNPC Öl unter dem Marktwert an ein halbstaatliches Jointventure unter Führung der europäischen Branchengrößen Shell, Total und ENI verkauft hat. Wie die Konzerne zu den Schnäppchen kamen, legt der Bericht nicht offen. Die Unternehmen reagierten mit einer Melange aus Schweigen und Abstreiten. NNPC wirft der Kommission Fehlkalkulationen, die französische Total verweigerte eine Stellungnahme, da der Report noch nicht von der nigerianischen Regierung angenommen sei. »Die Vorwürfe sind inkorrekt, aber wir können sie nicht kommentieren, da wir die Basis der Berechnungen nicht kennen«, erklärte die britisch-niederländische Shell mit Blick auf den Nebenvorwurf unterschlagener Fördergebühren für ein Off-Shore-Gasfeld in Höhe von 730 Millionen Euro.

Nigerianische Antikorruptionsgruppen warfen der Regierung von Präsident Goodluck Jonathan derweil vor, die Untersuchungsergebnisse öffentlich schlecht zu machen, anstatt gegen die aufgezeigten Betrügereien vorzugehen. Jonathan hatte die Kommission im Februar dieses Jahres selbst einberufen, nachdem heftige Proteste gegen die Abschaffung von Treibstoffsubventionen das Land lahmgelegt hatten. Viele Nigerianer, für die die Korruption im Ölgeschäft ein offenes Geheimnis ist, sehen in den billigen Benzinpreisen ihren einzigen Nutzen im Ölreichtum des Landes. Der Präsident versicherte seinerzeit, die gewonnenen Ersparnisse aus den Subventionsstreichungen in die marode Infrastruktur des bevölkerungsreichsten afrikanischen Staates zu stecken, die Untersuchungskommission sollte als Beleg für die neue Transparenz dienen. Mit teilweise wiedereingeführten Subventionen beruhigte sich die Lage dann. Doch das Feigenblatt Untersuchungskommission dürfte dem Präsidenten jetzt einigen Ärger bescheren, da der Bericht die Führung der einflußreichen Streitkräfte mit dem großangelegten Öldiebstahl im Niger-Delta in Verbindung bringt.

Nigeria kommt damit nicht zur Ruhe. Erst am Sonntag und Dienstag hatten zwei Anschläge der im vorwiegend muslimischen Norden operierenden Terrororganisation Boko Haram insgesamt 19 Todesopfer gefordert. Der von Korruption und Flügelkämpfen zerrüttete Staat scheint nicht in der Lage, die von extremer Armut befeuerten Konflikte zu lösen und könnte schon bald vor neuen Massenprotesten stehen. Die Mitglieder der Treibstoff- und Gasarbeiter-Gewerkschaft NUPENG bestreiken seit Wochenbeginn bereits etliche Shell-Standorte im Land, um gegen prekäre Arbeitsverhältnisse und für bessere Arbeitsbedingungen zu protestieren. Der aufkommende Korruptionsskandal dürfte dabei weder dem Konzern noch der Regierung helfen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 28. November 2012


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