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Müllhalde des Nordens

Globalisierung konkret: In immer größeren Mengen wird Elektronikschrott aus Industriestaaten in Armutsregionen der Welt "entsorgt"

Von Thomas Berger *

Wo ist die »Grand America« geblieben? Dieser Frage geht gerade die nigerianische Umweltbehörde nach. Der unter italienischer Flagge fahrende Frachter mit einer Ladung Elektronikschrott war in der vergangenen Woche aus dem Hafen von Lagos verschwunden, ohne daß der Zoll ihn aufgehalten hatte. Zuvor waren bei einer Inspektion Mitarbeiter der Umweltbehörde darauf gestoßen, daß die Fracht des Ozeanriesen aus ausrangierten Computern, Bildschirmen, Fernsehgeräten und ähnlichem bestand. »Wir haben kein Ersuchen bekommen, das Schiff festzuhalten«, entschuldigte Zollsprecher Wale Adeniyi das Nichteingreifen seiner Leute. Es war ausländischer Elektronikschrott, der nach dem Basler Übereinkommen vom 22. März 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung nicht einfach in Nigeria entsorgt werden darf, konterte die Chefin der Umweltbehörde Ngeri Benebo verärgert.

Die »Grand America« soll Benebos Informationen zufolge von Antwerpen gestartet sein. Ein anderer Frachter mit gleicher Ladung, die »MV Veradin«, liegt derzeit noch in Lagos vor Anker. Sie soll eine Route von den USA über Spanien genommen haben. Monatlich 500 Container mit 400000 gebrauchten Elektronikgeräten werden in der nigerianischen Metropole ausgeladen, hatte kürzlich die Nichtregierungsorganisation Basel Action Network als Schätzung angegeben. Die Gruppe kämpft gegen die stetig zunehmende Tendenz, westlichen Müll in Entwicklungsländern zu entsorgen. Aus den Augen, aus dem Sinn, lautet die Logik der Betreiber krimineller Netzwerke. Die erfreuen sich an den enormen Profiten, die aus illegalen Abfallverbringungen zu schlagen sind.

Mobiltelefone, Unterhaltungselektronik im Taschenformat, TV-Geräte und Computer mit der gesamten Palette der Peripheriegeräte – die Technik, die nicht nur in Europa und den USA, sondern zunehmend auch bei Mittel- und Oberschicht in aufstrebenden Nationen des Südens den Alltag bestimmt, hat nur eine begrenzte Lebensdauer. Und die wird immer kürzer. Die Folge sind Berge von Sondermüll. Die darin enthaltene Menge der verarbeiteten Giftstoffe stellt eine tickende Zeitbombe dar.

In den Industrienationen gibt es genaue Vorschriften und Entsorgungswege. Doch es mangelt immer wieder an der Durchsetzung der Gesetze und an Kontrollen. Ungeachtet des Basler Rahmenabkommens schippern ganze Müllflotten über die Weltmeere, um die ausgeworfenen Reste einer wachstumsorientierten Weltökonomie bei den Schwächsten abzuladen. Der aktuelle Fall bestätigt zudem, daß Nigeria neben Indien und China zu einem bevorzugten Zielort der »schwarzen Entsorgung« geworden ist.

Bereits auf einer Konferenz in Nairobi 2006, als über Probleme und Lücken bei der Umsetzung des Abkommens diskutiert wurde, hatte der Leiter des UN-Umweltprogrammes UNEP, Achim Steiner, eindringlich vor den Risiken gewarnt. Seinerzeit war von etwa 50 Millionen Tonnen Elektronikschrott pro Jahr die Rede, die global anfielen. Inzwischen (2009) liegt die Schätzung der anfallenden Jahresmenge bei 53 Millionen Tonnen. Einen genauen Überblick hat niemand.

Gesundheitsgefährdend bis hochgiftig ist vieles, was an einzelnen Stoffen in der modernen Elektronik verbaut ist. Blei in den Bildschirmen von Computern, in den älteren Modellen auch noch Arsen. Im PC selbst stecken Kadmium, Selen oder Chrom. Mobiltelefone bestehen gar aus bis zu 45 chemischen Elementen. Darunter befinden sich die bei direktem Kontakt mit dem menschlichen Organismus besonders gefährlichen Blei, Beryllium und Antimon. Während die Giftstoffe zum Teil als für die technische Funktionalität unabdingbar gelten und im Gerät in der Regel gut geschützt verbaut sind, kann jede unqualifizierte Demontage sie freisetzen. Dies ist nicht nur für die Umwelt, sondern auch für die Menschen, die dies ohne Schutz tun, eine erhebliche Gefährdung. Denn in Ländern wie Indien oder Nigeria wird oft unter primitivsten (billigsten) Bedingungen versucht, das zu gewinnen, was noch wertvoll ist.

Dem EU-Statistikamt zufolge stellen hier elektrische und elektronische Gerätschaften jeweils etwa die Hälfte des technischen »Wohstandsmülls«. Auf der einen Seite stehen Waschmaschinen, Toaster, Trockner, Spülmaschinen und ähnliches (30 Prozent) sowie Kühlschränke (20 Prozent). Beim Elektronikschrott machen Fernseher und PC-Bildschirme jeweils zehn Prozent aus. 15 Prozent entfallen auf Computer, Telefone, Faxgeräte und Drucker, weitere 15 Prozent auf Unterhaltungselektronik vom MP3-Player über Radios bis zum DVD-Recorder. Laut Eurostat haben sich beispielsweise Mobiltelefone in knapp eineinhalb Jahrzehnten explosionsartig verbreitet. War 1997 jeder zehnte Bürger mit einem solchen Gerät ausgestattet, kommen heute auf 100 Millionen Einwohner des europäischen Staatenbundes 122 Millionen Mobilfunkverträge. Früher wurde zudem ein Neugerät vielfach mehr als fünf Jahre genutzt, heute legt sich mancher bereits nach zwölf Monaten das gerade beworbene neueste Modell zu.

In den USA sind die Kontrollmechanismen bei der Abfallverbringung noch wesentlich unausgereifter und lückenhafter als in Europa, was eine »schwarze Entsorgung« erleichtert. Doch auch die hiesige Müllmafia ist rührig. Die Methoden, den Hintergrund der Ladungen zu verschleiern, sind vielfältig. Für eine Wiederverwendung dürfen gebrauchte Geräte durchaus exportiert werden. »Doch 75 Prozent von dem, was bei uns ankommt, ist nicht mehr nutzbar, sondern Schrott«, so John Oboro von der nigerianischen Händlervereinigung. Kitan Ogungbuyi, Wissenschaftlerin in Nigerias Umweltministerium, sprach gegenüber der britischen BBC von der Vermischung mit anderer Fracht wie Gebrauchtwagen sowie gefälschten Papieren, die dem Zoll vorgelegt würden. Das Marktsegment hat also alle Voraussetzungen für weiteres Wachstum.

* Aus: junge Welt, 29. Oktober 2010


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