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Gewaltspirale

Nigeria: Berichte über Luftangriffe und Entführungen. Westen nutzt Konflikt für Militärpräsenz

Von Simon Loidl *

Die Gewalt in Nigeria geht weiter. Am Dienstag berichteten internationale Medien, daß Kämpfer der islamistischen Gruppe Boko Haram erneut 91 Menschen entführt hätten. Dies hatten Mitglieder einer gegen die Angriffe der Sekte aufgestellten Bürgerwehr in dem Dorf Kummabza berichtet. Von den nigerianischen Behörden und Sicherheitskräften wurden die Berichte aus dem im Nordosten Nigerias gelegenen Bundesstaat zunächst nicht bestätigt. Der Angriff auf das Dorf, bei dem den Augenzeugenberichten zufolge auch vier Menschen erschossen wurden, soll sich bereits Ende vergangener Woche zugetragen haben.

Am Montag griff das nigerianische Militär laut Berichten nigerianischer Medien zwei Dörfer in Borno aus der Luft an. Dabei sollen mehr als 70 mutmaßliche Boko-Haram-Mitglieder getötet worden sein. Ebenfalls am Montag gab es einen Bombenanschlag in der Stadt Kano, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, bei dem Agenturberichten zufolge acht Menschen getötet wurden.

Unterdessen nimmt die Kritik an der nigerianischen Regierung im Fall der mehr als 200 von Boko Haram verschleppten Mädchen zu. Mehr als zwei Monate nach der Entführung der Schülerinnen aus dem Dorf Chibok gibt es immer noch keine Fortschritte bei dem Versuch, diese zu befreien. Die Islamisten fordern die Freilassung von inhaftierten Boko-Haram-Mitgliedern, Präsident Goodluck Jonathan lehnte dies ab. Die Armee gab an, über den Aufenthaltsort der verschleppten Mädchen Bescheid zu wissen, man befürchte aber, daß diese beim Versuch einer militärischen Befreiung von ihren Entführern getötet würden.

Nichtsdestotrotz nutzen USA und EU die Krise in Nigeria zum Ausbau ihrer Militärpräsenz in der Region. Wie der britische Guardian am Dienstag berichtete, werden seit mehreren Wochen Drohnen, »Antiterrorspezialisten« und Überwachungstechnologie aus den USA und aus Großbritannien nach Nigeria gebracht. Auch Frankreich, Israel und die Türkei haben demnach erneut ihre Unterstützung angeboten. Die nigerianische Zeitung Thisday wiederum berichtete am Mittwoch in ihrer Onlineausgabe, daß Spezialeinheiten der kalifornischen Nationalgarde derzeit nigerianische Einheiten für den Kampf gegen Boko Haram trainieren würden. »Es geht hier nicht um Friedenserhaltung«, zitierte die Zeitung John D. Ruffing von der United States Army Africa (USARAF), einem Teil des US Africa Command (AFRICOM). »Es geht genau um das, was wir als ›rigoroses Durchgreifen‹ bezeichnen«, so Ruffing.

Beobachter kritisieren unterdessen immer öfter die verstärkte Militarisierung des Konfliktes. In der aktuellen Ausgabe der panafrikanischen Zeitschrift New African bezweifelt Oberstleutnant Aminu Mohammed Umar von der nigerianischen Armee das Gelingen einer militärischen Lösung. Statt dessen müßten berechtigte Anliegen der islamistischen Gruppe, die sich vorwiegend aus arbeitslosen und verarmten Jugendlichen aus dem Norden Nigerias rekrutiert, von der Regierung aufgegriffen werden, so Umar, der sich für mehr Dialog einsetzt. Wie auch andere Beobachter macht der Armeevertreter auf die massiven sozialen Probleme des Landes aufmerksam, die einer Lösung bedürfen, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern.

Der Konflikt hat sich indes längst über die Grenzen Nigerias ausgebreitet. Soldaten des östlichen Nachbarlandes Kamerun sind immer häufiger in bewaffnete Auseinandersetzungen mit Boko-Haram-Kämpfern verwickelt. Am Montag wurden laut Thisday 40 mutmaßliche Mitglieder der Gruppe im Norden Kameruns verhaftet. Während der vergangenen Monate gab es immer wieder Berichte darüber, daß Boko-Haram-Kämpfer sich über die Grenze im Norden der beiden Länder zurückgezogen hätten. Auch in Niger und Tschad gab es bereits Zwischenfälle, an denen mutmaßliche Mitglieder der nigerianischen Gruppe beteiligt waren. Experten sprechen zudem von einer zunehmenden Vernetzung von Boko Haram mit islamistischen Gruppen aus anderen Regionen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 26. Juni 2014


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