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Terror in Jos

Nigeria: Mehr als hundert Menschen bei Anschlägen in Provinzhauptstadt getötet. Bevölkerung reagiert mit zunehmender Frustration auf Gewalt

Von Simon Loidl *

In Nigeria sind am Dienstag bei Anschlägen mindestens 118 Menschen getötet und etwa 45 weitere verletzt worden. In der Stadt Jos detonierten nach Angaben der Behörden in einem Geschäftsviertel zwei Sprengsätze im Abstand von etwa einer halben Stunde. Beide Bomben waren demnach in abgestellten Autos plaziert. Als die zweite Bombe explodierte, waren bereits zahlreiche Helfer vor Ort, die Opfer der ersten Explosion bargen. Augenzeugen sprachen von massiven Zerstörungen, die Rettungskräfte rechneten damit, daß aus den Trümmern noch weitere Opfer geborgen werden. Nigerianische Medien berichteten davon, daß mehrere Gebäude durch die Wucht der Explosionen einstürzten. Zunächst bekannte sich niemand zu dem Anschlag im etwa 300 Kilometer nordöstlich der nigerianischen Hauptstadt Abuja gelegenen Jos, Behörden und Me­dien schrieben die Tat aber der islamistischen Gruppe »Boko Haram« zu. Die soll auch für den Tod von 30 Menschen im Dorf Shawa im Nordosten Nigerias wenige Stunden zuvor verantwortlich sein. Dorfbewohner berichteten der Zeitung Leadership am Mittwoch, die Männer hätten unter den Rufen «Allahu akbar» (Gott ist groß) um sich geschossen.

Nigerias Präsident Goodluck Jonathan verurteilte das Attentat und kündigte ein härteres Vorgehen im Kampf gegen Terroristen und Aufständische an. Mehrere christliche und muslimische Vertreter appellierten an die Menschen in der Region, Ruhe zu bewahren. Der britischen Tageszeitung Guardian zufolge halfen Angehörige unterschiedlicher Glaubensrichtungen bei der Bergung der Opfer. Einige christliche Jugendliche versuchten allerdings, mit Waffen in muslimische Wohnviertel zu marschieren, wurden jedoch von der Polizei daran gehindert.

Zuletzt war es in Jos im Dezember 2010 zu einer Anschlagsserie gekommen. Mindestens 38 Menschen waren damals getötet worden, es kam zu tagelangen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Jugendlichen, bei denen Dutzende Menschen starben. Damals hatte sich »Boko Haram« zu den Angriffen auf christliche Kirchen bekannt.

Trotz bislang ausstehender Bestätigung durch die Gruppe scheint es sehr wahrscheinlich, daß der »Verband der Sunniten für Dawa und Dschihad«, so der offizielle Name der Gruppe »Boko Haram«, hinter den Anschlägen vom Dienstag steckt. Immerhin machte die islamistische Sekte während der vergangenen Wochen beinahe täglich mit spektakulären Verbrechen Schlagzeilen. Nach wie vor etwa sollen sich mehr als 200 entführte Mädchen in der Gewalt von »Boko Haram« befinden. Nach Angaben von Amnesty International sind seit Jahresbeginn bei Anschlägen bereits mehr als 1 500 Menschen getötet worden. In Zusammenhang mit der Entführung der Schülerinnen Anfang Mai warf die Menschenrechtsorganisation den nigerianischen Behörden vor, nicht auf Warnungen reagiert und Zivilisten nicht ausreichend geschützt zu haben. Im April waren bei einem Doppelanschlag in Abuja mehr als hundert Menschen getötet worden, und erst am vergangenen Sonntag starben fünf Menschen, als ein Selbstmordattentäter in der Stadt Kano eine Autobombe zündete.

Trotz zunehmender Internationalisierung des Konflikts zwischen dem nigerianischen Staat und »Boko Haram« ist über die Gruppe selbst relativ wenig bekannt. Beobachter gehen davon aus, daß die Sekte, die vor etwa zehn Jahren in den nördlichen Regionen Nigerias auftauchte, mittlerweile in mehrere Gruppen aufgesplittert ist – von bis zu sechs Fraktionen etwa schrieb das Magazin New African kürzlich. Die islamistischen Gruppen rekrutieren ihre Kämpfer vorwiegend in den armen Regionen des Landes. Die sozialen Unterschiede in Nigeria sind riesig. Von dem Status als größte Volkswirtschaft des Kontinents, den das Land seit April offiziell hat, profitieren nur wenige. In den muslimisch geprägten Provinzen des nördlichen Nigeria herrschen insbesondere unter den Jugendlichen Arbeits- und Perspektivlosigkeit.

Die nigerianische Regierung verliert angesichts der Gewalt zunehmend an Legitimation. In der Bevölkerung steigt die Frustration über die Anschläge, Regionalpolitiker verlangen von der Regierung Schutz vor Anschlägen. Eine militärische Offensive im Norden Nigerias, die von der Armee im vergangenen Jahr gestartet worden war, hat bislang lediglich zu noch mehr Attentaten geführt. Solange die sozialen Wurzeln des Terrors nicht beseitigt werden, dürfte sich daran aber auch so schnell nichts ändern.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. Mai 2014


»Totaler Krieg«

Multinationales Eingreifen in den nigerianischen Bürgerkrieg soll institutionalisiert werden

Von Knut Mellenthin **


Nigeria entwickelt sich zu einem weiteren Beispiel für die »erfolgreiche« militärische Internationalisierung eines internen Konflikts. Die Befürworter dieser Strategie, die um humanitäre Begründungen nie verlegen sind, wird das auch künftig nicht abschrecken. Seit vor einem Monat mehr als 200 Schülerinnen von bewaffneten islamischen Fundamentalisten entführt wurden, sind in Nigeria an die 100 Berater aus den USA, Frankreich, Großbritannien und Israel eingetroffen, um den einheimischen Sicherheitskräften bei der Suche nach den Mädchen zu helfen. So lautet zumindest der offizielle Auftrag. Ob das nach vier Wochen überhaupt noch möglich ist, muß bezweifelt werden. Die meisten Beobachter gehen davon aus, daß die Entführer sich mit ihren Opfern längst in mehrere kleine Gruppen aufgeteilt und sich vielleicht über irgendeine Grenze abgesetzt haben.

Es gibt eine weitere gewichtige Schwierigkeit: Die beteiligten westlichen Regierungen haben sich bisher übereinstimmend darauf festgelegt, daß die von ihnen entsandten Militär- und Polizeikräfte ausschließlich Erkenntnisse sammeln und beratend, aber nicht »operativ« tätig werden sollen. Das heißt: Eine Beteiligung an Kampfeinsätzen zur Befreiung entführter Mädchen, falls man wirklich ihre Aufenthaltsorte ausfindig machen sollte, wird ausgeschlossen. Jedenfalls wird das bisher so behauptet.

Andererseits jedoch: Israelische Medien haben von Anfang an berichtet, daß von Jerusalem in andere Länder geschickte Aufklärer und Militärs eventuell gewonnene Erkenntnisse grundsätzlich niemals mit den Sicherheitskräften des Gastlandes teilen. Ähnliches gilt, zumindest im Fall Nigerias, auch für das US-amerikanische Team. Das wird damit begründet, daß es den Islamisten gelungen sei, das nigerianische Militär, die Geheimdienste, die Polizei und sogar den Regierungsapparat zu unterwandern. Außerdem gibt es bis jetzt zwischen den USA und Nigeria kein sogenanntes Protokoll, das die Weitergabe nachrichtendienstlicher Erkenntnisse erlaubt und regelt. Erst am Montag teilte das Pentagon den Abschluß einer entsprechenden Vereinbarung mit. Sie sieht aber, den Meldungen zufolge, nur vor, daß »einige« Informationen weitergegeben werden können.

Generell stellt anscheinend die behauptete Unfähigkeit und Unzuverlässigkeit der nigerianischen Sicherheitskräfte, mit der die Entsendung westlicher Expertenteams begründet wird, zugleich auch ein erhebliches Hindernis oder zumindest einen politischen Vorwand dar, der eine Zusammenarbeit stark einschränkt – und damit auch eine Beratertätigkeit fragwürdig macht. Der britische Außenminister William Hague äußerte am Wochenende öffentlich, daß das nigerianische Militär strukturell und organisatorisch nicht in der Lage sei, die bewaffneten Islamisten wirkungsvoll zu bekämpfen. Seine Regierung habe deshalb angeboten, Militärberater in den nigerianischen Kommandozentralen zu installieren oder, wie Hague wörtlich sagte, »einzubetten«.

Das mutet aus zwei Gründen seltsam an: Erstens sind schon seit Jahrzehnten westliche Ausbilder, vor allem aus den USA und gerade auch aus der früheren Kolonialmacht Großbritannien, immer wieder in Nigeria tätig gewesen. Zweitens scheint nicht nur der Westen, sondern auch der UN-Sicherheitsrat kein Problem damit zu haben, daß das als unfähig gescholtene nigerianische Militär, das auch für schwere Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, immer wieder zu Interventionen außerhalb seiner Grenzen eingesetzt wird. Und das nicht nur in der von Nigeria dominierten Region Westafrika, sondern sogar im weit entfernten Somalia.

Daß auch künftig auf die in der Praxis vielfach gescheiterte Internationalisierung von Konflikten gesetzt wird, wurde bei der »Gipfelkonferenz« deutlich, die am Sonnabend auf Einladung des französischen Präsidenten Francois Hollande in Paris stattfand. Vertreten waren neben dem Gastgeberland, den USA, Großbritannien und der EU auch Nigerias Nachbarn Kamerun, Tschad, Niger und Benin. Vereinbart wurde, daß die fünf afrikanischen Staaten bei der Grenzüberwachung und dem Austausch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse eng zusammenarbeiten wollen. Der Westen wird mit seinen »Beratern« die Gesamtregie dieser Kooperation übernehmen, technische Mittel bereitstellen, noch mehr Waffen als bisher liefern und den beabsichtigen »totalen Krieg« – so drückte sich Tschads Präsident Idriss Deby aus – auch finanziell unterstützen.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. Mai 2014


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