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Vivirás, Monimbó! Vor 25 Jahren siegten die Sandinisten in Nikaragua

Unzeitgemäße Würdigung einer Volksrevolution

Von Lutz Herden*

Es war nicht überraschend, dass sich hierzulande das Juste-milieu in Politik und Medien darauf verständigte hatte, Ronald Reagan nach seinem Tod am 5. Juni wie einen verlorenen Vater zu betrauern und als "starken Präsidenten" zu hofieren, der den USA nach Vietnam und Ölschock, nach Watergate und dem Weichling Carter wieder Respekt in der Welt verschafft hatte. Damit kein störender Schatten auf die Lichtgestalt fiel, brachte das pathetische Palaver bestenfalls Halbsätze zustande, in denen Reagan als eine der letzten derben Figuren des Kalten Krieges auftauchte, um sogleich wieder in die Toga des "naiven Optimisten" gewickelt zu werden, der dank Hochrüstung und beinhartem Antikommunismus die Sowjetunion Gorbatschows in die Knie zwang.

Keine einzige Silbe der Erinnerung wert war die so böswillige wie bornierte Feindschaft, die Reagan zwischen 1981 und 1989 fast alles tun ließ, um Nikaraguas sandinistische Revolution abzuwürgen und ein kleines, unterentwickeltes Land in einen Zermürbungskrieg zu stürzen, der 60.000 Menschenleben kostete. Dabei standen die USA gerade Nikaragua gegenüber in einer besonderen historischen Schuld. Als am 19. Juli 1979 die Frente Sandinista de la Liberación Nacional (FSLN) Managua befreite, beendete dieser Sieg die fast 45 Jahre währende Diktatur der Somozas, die sich stets unter amerikanischer Obhut wussten und keinerlei Hemmungen kannten, aller Welt zu zeigen, mit welch barbarischen Methoden sie ihre Tyrannei zu erhalten verstanden. Über den Vater Anastasio Somozas, dessen Präsidentschaft am 16. Juli 1979 mit der Flucht aus Nikaragua ein angemessenes Finale fand, hatte einst Franklin D. Roosevelt - wohl in einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung für die eigene Skrupellosigkeit - erklärt: "Somoza is a son of bitch, but he is our son of bitch" (Somoza ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn). Die Somozas galten als brauchbare Spielgefährten der freien westlichen Welt wie die Videlas und Pinochets gleich nebenan oder die Saddams und Osama bin Ladens anderswo.

Wir versuchen, sie zu stürzen

Am 19. Juli 1979 war die somozistische Nationalgarde geschlagen, doch ihre Reste formierten sich bald zu ersten Contra-Verbänden, um einen verdeckten Krieg zu führen und von Präsident Reagan, dem "naiven Optimisten", "unsere Brüder" genannt zu werden. Anfang 1982 lässt er ihnen die ersten 20 Millionen Dollar zur Alimentierung auszahlen, ein Jahr später wächst die nun auch vom US-Kongress abgesegnete Finanzhilfe (die Contra besitzt inzwischen mit der Demokratischen Front/FDN einen Dachverband, den ein früherer Vizepräsident Somozas anführt) auf 24 Millionen Dollar. John Negroponte - heute US-Prokonsul im Irak, damals Botschafter in Honduras - wird zum Patron der antisandinistischen Subversion. 1984 verminen CIA-Kommandos die Häfen Nikaraguas, was zu einer Klage der sandinistischen Regierung vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag führt, der Washington auffordert, die rechtswidrige Blockade sofort zu beenden. Reagan beeindruckt das nicht im Geringsten, am 27. Februar 1985, auf der ersten Pressekonferenz seiner zweiten Amtszeit, gibt er die bis dahin übliche Sprachregelung auf, man protegiere die Contra, um die Sandinisten zu hindern, die Revolution nach El Salvador und in andere Gegenden Mittelamerikas zu exportieren. Als Reagan gefragt wird, ob die USA direkt intervenieren wollten, sagt er: "Man kann sagen, dass wir versuchen, die Sandinisten zu stürzen." (Newsweek, 4. 3. 1985)

Prompt autorisiert das Repräsentantenhaus die CIA zu direkten Operationen gegen Nikaragua und reicht 100 Millionen Dollar an die Contra weiter, obwohl der Haager Gerichtshof 1986 nochmals interveniert und die US-Regierung gar dazu verurteilt (ein einmaliger Fall), Nikaragua für die Zerstörung seiner Wirtschaft zu entschädigen. Aber Washington will vor aller Augen ein Exempel statuieren. Indem das sandinistische Nikaragua bestraft wird, soll einer ganzen Region eingebläut werden, wer eigenwillig ausschert, muss mit unversöhnlicher Feindseligkeit rechnen. Wer es riskiert, souverän zu handeln, soll wissen, eine US-Administration legitimiert in diesem Fall auch Terrorismus und Subversion.

Die heute unablässig über Kuba kreisenden Menschenrechtsgeschwader des Westens, deren Aufarbeitungshunger bekanntlich nie zu stillen ist, haben zu diesem Teil der nikaraguanischen Geschichte wenig zu sagen, auch wenn (oder weil?) sich darin mehr als nur ein Teil der kubanischen Geschichte spiegelt. Aber die Sandinisten hatten natürlich in ihrem Himno del F.S.L.N. die USA "als Feind der Menschheit" bezeichnet - das dürfte bis heute nicht nach dem Weltbild, schon gar nicht nach dem Geschmack der "linken" Flügeladjutanten des westeuropäischen Juste-milieu sein. Ohnehin sind die 60.000 Toten längst vergessen wie das kleine Land, in dem sie lebten. Dem für ein Jahrzehnt Flügel zu wachsen schienen, als es mit dem Drang nach Selbstbestimmung über sich selbst hinaus wuchs, um danach wieder in die weltpolitische Drittklassigkeit abwandern zu müssen. Nichts anderes ist seit Februar 1990, seit der Wahlniederlage der Sandinisten gegen die vereinte bürgerliche Opposition, geschehen. (Am 25. 2. 1990 siegte die gemeinsame Kandidatin der bürgerlichen Opposition, Violeta de Chamorro, gegen Daniel Ortega (FSLN) mit 54 gegen 41 Prozent.

Eine Erklärung dafür, weshalb die Revolution bis dahin trotz aller Widrigkeiten viel erreicht hat, klingt einfach: In den Jahren nach 1979 stehen die Sandinisten an der Spitze einer authentischen Volksrevolution. Die ist erfrischend unkonventionell und modern, die Comandantes der FSLN folgen keinem sowjetischen Modell, weil sie als Nikaraguaner Nikaragua verändern wollen, sie sind keinem kubanischen Muster verpflichtet, auch wenn ihnen die Kubaner in selbstloser Weise helfen - sie folgen den Inspirationen eines leidenschaftlichen, ungeduldigen Patriotismus. Sie bekennen sich zu einer gemischten Wirtschaft, zu Blockfreiheit und politischem Pluralismus. Sie verkünden den freien Zugang zu medizinischer Versorgung (ließ sich in Westeuropa je ermessen, was das in Mittelamerika bedeutete?), sie beginnen die Cruzada Nacional de Alfabetización, ermöglichen kostenlosen Unterricht für die Primärstufe der Schulen, vergeben Besitztitel für die Campesinos auf den Baumwollplantagen - und nicht wenige Aktivisten dieser proyectos, wie es damals heißt, sterben in einem Hinterhalt der Contra.

Bewahre mich vor der Macht

Nach dem 19. Juli 1979 entstehen an vielen Orten Nikaraguas spontan Kulturkomitees, die Melodien der langen verpönten Volkstänze sind überall zu hören, in Masaya findet die indianische Kultur ihre Bühne. Zum ersten Mal gibt es in Nikaragua ein Ministerium für Kultur, dem mit Ernesto Cardenal ein Priester und Dichter vorsteht, der im Refugium der Künstlerkolonie auf dem Solentiname-Archipel einst schrieb: "Bewahre mich vor dem Hochmut der Geldherrschaft und der politischen Macht!"

Als ich 1982 zu Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über die sandinistische Revolution in Managua unterwegs war, interviewte ich Ernesto Cardenals Bruder Fernando, damals Bildungsminister und Koordinator der Alphabetisierung, der meinte: "Wir glaubten, in Nikaragua gäbe es überhaupt keine Kultur mehr, weil die Kultur unter Somoza verachtet war und vergessen werden sollte. Der Begriff ›Kultur‹ war praktisch kaum noch existent, heute kann man ihn überall lesen, und wir spüren, welcher Reichtum uns dadurch zuteil wird." Vielen Nikaraguanern war anzumerken, sie begriffen das als unerwartetes Lebensglück, das es zu verteidigen lohnte. Mehr wollten sie (zunächst) nicht.

Jetzt habe ich noch nichts geschrieben über die teils napoleonischen Gebaren und den Geltungsdrang einiger Comandantes, über die manchen nachgesagte Korruption, über Fehlentscheidungen wie den Zwang zum Patriotischen Militärdienst seit 1983/84, über den ökonomischen Niedergang seit Mitte der achtziger Jahre, der nicht nur der Sabotage und dem Wirtschaftsembargo der USA zu verdanken war. Auch der übliche Zynismus, Träume zu verwerfen oder - besser noch - zu denunzieren, die heute peinlich zu sein haben, will nicht aufkommen.

Der nikaraguanische Dichter und Komponist Carlos Mejía Godoy erzählt in seinem Lied Vivirás Monimbó! (Du wirst leben, Monimbó!) über die Bewohner der indianischen Enklave bei Masaya, deren Aufstand gegen Somoza 1978 scheitert: "Die Keule, die ihren Rücken traf, schlug einen Funken, von dem Nikaragua erwachte ..." Das klingt aber heroisierend, verklärt unzulässig und wird dem "verblassten Mythos" Nikaraguas nicht gerecht, höre ich die ewig aufgeklärten Tempelwächter des zivilgesellschaftlichen Gehorsams raunen. - Ja, soll es auch, denn vor einem viertel Jahrhundert war es genau so und nicht anders.

* Aus: Freitag 31, 23. Juli 2004


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