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Praktische Solidarität

Zum 25. Jahrestag: Erinnerungen an die ersten Jahre der sandinistischen Volksrevolution in Nikaragua

Anläßlich des 25. Jahrestages der Sandinistischen Revolution in Nikaragua dokumentieren wir im folgenden die Erinnerungen Gerald Möckels, des ersten Botschafters der DDR in Nikaragua. Möckel, Jahrgang 1935, aus einer Arbeiterfamilie stammend, studierte von 1954 bis 1960 Außenpolitik mit dem Schwerpunkt Lateinamerika am Institut für Internationale Beziehungen in Moskau. Bis 1974 war er Mitarbeiter im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR, von 1974 bis 1979 war er in der Internationalen Abteilung des ZK der SED tätig (Arbeitsschwerpunkt: Politische Parteien in Lateinamerika). Dazwischen lagen Auslandseinsätze als Botschaftssekretär in Kuba (1966/67) und Uruguay (1970/ 73) sowie als Botschafter in Nikaragua (1979–83) und Ekuador (1986–1990).

Von Gerald Möckel*

Gegen 21 Uhr setzte der Flieger aus Mexiko kommend auf dem Flugplatz Managua zur Landung an. Ich war froh, nach einer langen und ermüdenden Reise über Amsterdam, Montreal/Kanada, Houston/USA und Mexiko, die mit Zwischenaufenthalten zirka 30 Stunden gedauert hatte, an meinem Bestimmungsort angekommen zu sein. Beim Aussteigen schlug mir extrem heiße und feuchte Luft ins Gesicht und machte mir schlagartig klar, welch anstrengendes Klima mich in diesem Land erwarten würde. Dabei war es Winter, wir schrieben den 24. Dezember 1979. Am Fuße der Gangway standen Gerhard Korth, ein mir gut bekannter Kollege aus dem DDR-Außenministerium, der seit Ende Juli die Funktion des DDR-Geschäftsträgers wahrnahm, und der provisorische Protokollchef der sandinistischen Regierung. Nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßung verschwand letzterer wieder, es war schließlich Heiligabend. Wir beiden anderen widmeten uns den Paß- und Gepäckformalitäten. Kurze Zeit später stiegen wir in einen Mercedes. Das mit jeglichem Luxus ausgestattete Fahrzeug hatte wenige Monate zuvor noch der Geliebten des Diktators Somoza gehört und war nun der DDR zeitweilig zur Verfügung gestellt worden. Als Gerhard Korth mir nach relativ kurzer Fahrt erklärte, daß wir gerade das Stadtzentrum erreicht hätten, versuchte ich vergeblich, etwas von einer Stadt zu entdecken. Obwohl ich wußte, daß das Erdbeben vom Dezember 1972 riesige Schäden angerichtet, 30000 Menschenleben gekostet und über 100000 Menschen obdachlos gemacht hatte‚war der Anblick gespenstischer Leere irgendwie unfaßbar.

Als ich am nächsten Morgen im Hotel Intercontinental ans Fenster trat, war der Eindruck noch niederschmettender. Ich sah nur einige wenige Gebäude bzw. deren Überreste und die grauen Bänder von Straßen, die diese mit spärlichem Grün durchsetzte Steinwüste durchzogen. Mir war aber bekannt, daß aus der ganzen Welt umfassende Sach- und Finanzhilfe geleistet worden war, um den Bewohnern dieser Stadt eine schnellstmögliche Rückkehr zur Normalität zu ermöglichen. Somoza hatte sich damals zum obersten Verwalter all dieser Güter erklärt und sie dann nach seinem Gutdünken eingesetzt. Die Sachspenden flossen gegen bare Münze in den Großhandel, die Millionen Dollar verschwanden in seinen Unternehmen oder direkt auf den Konten des Somoza-Clans. Die betroffene Bevölkerung blieb ohne jede Unterstützung und die Hauptstadt so, wie sie das Erdbeben hinterlassen hatte, und das lag inzwischen sieben Jahre zurück.

Allein dieses Beispiel wirft ein bezeichnendes Licht auf das generelle Vorgehen dieser Diktatur. Die Somoza-Präsidenten (Vater und Söhne) agierten über 40 Jahre kriminell und maßlos raffgierig. Selbst im bürgerlichen Lager verbreiteten sie mit Morden, illegalen Enteignungen und Verschleppungen Angst und Schrecken. Schließlich verfügte die Sippe über die Hälfte des nationalen Vermögens, und ihr Kapital überschritt die Milliardengrenze. Aber der Widerstand wuchs. Herausragendes Ereignis war die Gründung der Sandinistischen Front der Nationalen Befreiung (FSLN) 1961. In den ersten Jahren war sie schwach organisiert, im Volk wenig bekannt und schlecht bewaffnet. Sie erlitt im Kampf mit der ebenfalls von den Somozas angeführten Nationalgarde schwere Niederlagen und mußte ihr Tätigkeitsfeld fast ausschließlich in die Bergwelt im Norden verlegen.

Die neue revolutionäre Bewegung, die auf ihre Fahnen die Ideale Sandinos geschrieben hatte, gewann in opferreichen Kämpfen Schritt für Schritt wertvollen Boden und zog schließlich am 19. Juli 1979 im Triumphzug in die Hauptstadt ein. Somoza junior floh mit den errafften Reichtümern in die USA, wo man aber für den gescheiterten Diktator nichts mehr übrig hatte. Er wurde ins Exil nach Paraguay abgeschoben, wo er das gleiche Schicksal wie sein Vater erlitt: Er wurde im September 1980 auf offener Straße erschossen.

Vor der FSLN und der fünfköpfigen Regierungsjunta der Nationalen Erneuerung und allen anderen demokratischen Kräften standen gewaltige Aufgaben. Die große Mehrheit des Volkes erhoffte sich Frieden, demokratische Verhältnisse und vor allem eine rasche Verbesserung ihrer ökonomischen und sozialen Situation. Überall, wo ich in dieser Zeit hinkam, um mir ein Bild zu machen, fand ich zerstörte kleinere und größere Industrieanlagen, eine daniederliegende Landwirtschaft, kaum Infrastruktur. Es gab keinen Staatsapparat, keine ausgebildete Polizei. Die Banken waren geplündert, die Auslandsschulden enorm. Im Prinzip war das Land bankrott.

Meine Arbeit und auch die der im Laufe des Jahres 1980 eintreffenden Kollegen konnte sich natürlich zunächst nicht im Rahmen normaler diplomatischer Tätigkeit bewegen, aktive solidarische Unterstützung war geboten. Bereits am dritten Tag nach meinem Eintreffen hatten wir ein Soliflugzeug aus der DDR zu betreuen, das ein weiteres Mal Medikamente, medizinische Ausrüstungen und andere dringend benötigte Güter transportierte. Beim Landemanöver überflog der Kommandant erst einmal im Tiefflug die Piste, um die Gegebenheiten zu studieren, denn Kartenmaterial oder Radaranlagen waren nicht mehr vorhanden. Im zweiten Anlauf setzte die Iljuschin Il-62 dann sicher auf der Rollbahn auf. Natürlich waren die insgesamt zehn Flüge mit Hilfslieferungen in den Jahren 1979 und 1980 nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber Regierung und Volk registrierten diese Aktionen mit großer Zufriedenheit, dokumentierten sie doch die Wertschätzung für ihre Revolution.

Unter den Verwundeten, die per Flugzeug damals zur Heilbehandlung in die DDR gebracht wurden, war auch der sechsjährige Martin, dem eine Granate beim Spielen beide Füße abgerissen hatte. Nach einer längeren Zeit in der DDR kehrte er in einer der Solimaschinen zurück. Ich werde nie den Augenblick vergessen, als der Junge ohne fremde Hilfe die Gangway herabstieg und dann auf seinen Prothesen zu seiner Mutter lief. Während Freudentränen über ihr Gesicht liefen, stammelte sie immer wieder: Gott und die DDR haben an meinem jungen ein Wunder vollbracht.

Aber nicht nur zur DDR unterhielten die Sandinisten hervorragende Beziehungen, sondern auch zu einer Reihe von lateinamerikanischen Staaten und internationalen Organisationen, die die demokratischen Umwälzungen begrüßt hatten und unterstützten. Auch hier fehlte jedoch der notwendige Apparat. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang gern an meine Akkreditierung. Unser Geschäftsträger Gerhard Korth meldete mich beim Regierungsrat an, und wir erhielten prompt einen Termin für den nächsten Tag. Die Mitteilung lautete lapidar: Kommt mal morgen gegen 15 Uhr vorbei. Das taten wir. Im Regierungsgebäude, einer großen ehemaligen Bank, die das Erdbeben leidlich überstanden hatte, wußte niemand Bescheid. Nach einigem Suchen fanden wir schließlich Violeta Chamorro, die Witwe des von Somoza ermordeten einflußreichen großbürgerlichen Zeitungsverlegers, die Mitglied der Regierungsjunta geworden war, was von den Somoza-Gegnern in der Bourgeoisie mit Genugtuung aufgenommen worden war. Sie empfing uns sehr freundlich und wollte als erstes wissen, wie denn eine solche Botschafterakkreditierung abzulaufen habe. Wir beschränkten uns in unserer Antwort auf das Allernotwendigste, um nichts zu komplizieren. Sie bat um etwas Geduld und machte sich auf‚ um weitere Mitglieder der Junta zu finden, die sich gerade im Hause aufhielten. In weiteren zehn Minuten war die Zeremonie ohne alle sonst international üblichen Schnörkel erledigt. Uns störte nicht im geringsten, daß die DDR-Fahne im Arbeitszimmer von Frau Chamorro verkehrt hing und der Außenminister, der alles hätte leiten sollen, in letzter Minute beinahe zufällig zu diesem Treffen dazukam.

Unsere Rückfahrt in die Botschaft verlief sehr fröhlich, da wir beide nie Ähnliches erlebt hatten. Uns war aber völlig bewußt, daß die Regierung viel Wichtigeres zu tun hatte. In der folgenden Zeit konzentrierten wir uns weiterhin auf die praktische Solidarität. Neben der Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen kümmerte sich die FSLN intensiv um die Bildung der Menschen. Noch 1980 wurde landesweit eine Alphabetisierungskampagne gestartet. In der DDR wurden zu jener Zeit 500 000 Hefte und genau so viele Bleistifte gesammelt, die wir in Managua zu den entsprechenden Bildungseinrichtungen beförderten. Wie wichtig diese Kampagne war, wurde uns deutlich, wenn immer wieder Menschen aller Altersklassen auf uns zukamen und stolz ihre Lese- und Schreibkünste demonstrierten. Für ihr Selbstwertgefühl waren diese Kenntnisse ungemein wichtig, denn die Analphabetenrate war unbeschreiblich hoch. Bei diesem »Feldzug gegen die Unwissenheit«, wie die Aktion genannt wurde, kam nebenbei heraus, daß viele Menschen Sehprobleme hatten. Als wir das feststellten, wurde die Bevölkerung der DDR postwendend aufgerufen, alte Brillen für Nikaragua zu sammeln. Augenärzte und Optiker reinigten und klassifizierten die Gläser und schickten sie zusammen mit ophtalmologischen Geräten zu uns. Sowohl für die betroffenen Nikaraguaner als auch für uns waren es erhebende Momente, wenn sie wieder richtig sehen konnten. Noch vieles bliebe festzuhalten: Als das Brotgetreide knapp wurde, schickte die DDR zwei große Schiffsladungen Weizen; die FSLN erhielt leichte Motorräder aus Zschopau; ein komplettes Krankenhaus wurde in Managua aufgebaut und mit deutschen Ärzten, Schwestern und Material aller Art versorgt; Lehrwerkstätten wurden errichtet und vieles andere mehr. Selbst die Kinder in der DDR sammelten zu Weihnachten Spielzeug und schickten es, mit anrührenden Briefchen versehen, an ihre nikaraguanischen Altersgenossen. Heute hört man des öfteren, diese Solidarität sei verordnet oder aufgezwungen worden. Ich halte das für bösartigen Unsinn. Wenn ich im Jahresurlaub in die DDR kam, hatte ich vielfach Gelegenheit, in Betrieben und Einrichtungen die jeweiligen Spender zu besuchen und ihnen mit Dias zu zeigen, wo ihre Solidarität angekommen war. Da war schlicht und einfach zu spüren, daß ihnen diese kleinen Taten eine Herzensangelegenheit waren. Natürlich mußte alles irgendwie zusammengeführt werden, und in diesem Zusammenhang leistete das DDR-Solidaritätskomitee eine ganz außerordentliche Arbeit.

In Nikaragua selbst wurde etwa ab 1982 die politische und ökonomische Lage zunehmend schwieriger. Die USA gingen unter Präsident Ronald Reagan verstärkt zur Politik vielfältiger direkter und indirekter Einmischung über. Neben den üblichen Verleumdungen, dem Druck auf andere Staaten und dem Versperren internationaler Finanzquellen wurde in Honduras, dem nördlichen Nachbarn Nikaraguas, eine vorrangig aus Exmitgliedern der Nationalgarde rekrutierte Eingreiftruppe aufgestellt und zum Einschleusen nach Nikaragua vorbereitet. Die USA griffen auch selbst an, wie die von US-Kriegsschiffen aus erfolgte vollständige Zerstörung der riesigen Erdöltanks im Pazifikhafen Corinto beweist. Schließlich entfachten sie im Norden entlang der Grenze zu Honduras einen umfassenden Krieg, den sie später auch auf die Südgrenze zu Costa Rica ausdehnten. Diese Kriegshandlungen der sogenannten Contras fügten der Revolution immensen Schaden zu. Sie verschlangen 70 Prozent des Staatshaushaltes, erforderten den Einsatz gewaltiger Truppeneinheiten und schmälerten erheblich die Möglichkeiten zum Wiederaufbau des Landes und der Verbesserung der Lebensverhältnisse.

Es war wieder fast Weihnachten, als ich Ende 1983 nach vierjährigem Aufenthalt meine Tätigkeit in Nikaragua beendete. Ich verließ ein Volk, das weiterhin kämpferisch an der Seite der FSLN stand und an den militärischen Fronten sowie in der Ökonomie um Stabilisierung und Fortschritte rang. Aber die Übermacht der USA machte sich immer stärker bemerkbar. Das tapfere Drei-Millionen-Volk und seine Führung waren immer weniger in der Lage, dem allseitigen Druck der äußeren und inneren konterrevolutionären Kräfte standzuhalten. Als dann 1990 Wahlen stattfanden, erlitt die FSLN eine unerwartete und bittere Niederlage. Sie mußte die Macht an das bürgerliche Lager abgeben, das sich traditionell fest im Griff der USA befand und bis heute befindet.

Es dürfte aber zu erwarten sein, daß die übergroße Mehrheit der Bevölkerung die Ideen und Taten von Sandino und der FSLN nicht aus ihrem Gedächtnis streichen wird. Die großartigen Leistungen der sandinistischen Volksrevolution dürften nachwirken und die zukünftige Entwicklung nachhaltig beeinflussen. Das Volk von Nikaragua, das Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit und ein würdiges Leben aus persönlicher Erfahrung kennt, wird mit großer Sicherheit nach Mitteln suchen, um sich erneut zu befreien.

* Die Erinnerungen sind veröffentlicht in der Wochenendbeilage der Tageszeitung "junge Welt" vom 17. Juli 2004.


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