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"Wieder auf klarem Kurs"

Nicaragua zwanzig Jahre nach Abwahl der FSLN. Gespräch mit William Grigsby *

William Grigsby ist Journalist und Leiter der Radiostation Primeísima sowie der Zeitschrift Correa. Er ist langjähriger Aktivist der FSLN



Im November 2006 wurde Daniel Ortega mit 37,99 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten Nicaraguas gewählt. Hat die erneute Übernahme der Regierung durch die Frente Sandinista (Sandinistische Front -- FSLN) eine Rückkehr zur Politik der nationalen Befreiung ermöglicht?

Der Prozeß der nationalen Befreiung, der 1990 durch die Wahlniederlage der FSLN unterbrochen wurde, wird wieder in Gang gesetzt. Er wird durch zwei Aspekte geprägt. Auf der politischen Ebene hat Nicaragua durch den Sieg der FSLN sowohl seine außen- als auch seine innenpolitische Unabhängigkeit wiedererlangt. Auf dem ökonomisch-sozialen Gebiet sind die bisherigen Fortschritte etwas geringer -- trotz des Beitritts zur ALBA, was sicherlich als strategisch wichtigster Schritt der letzten 20 Jahre gewertet werden kann. Dank dieser Allianz konnten wir die aktuelle Energie- und Ölkrise besser bewältigen und haben alternative Finanzierungsquellen erschlossen.

Wie bewerten Sie die ersten dreißig Regierungsmonate der Frente Sandinista?

Die FSLN hat die sozialen Rechte des größten Teils der armen Bevölkerung wiederhergestellt. Am 17. Juli ist das Land von der UNESCO als »frei vom Analphabetismus« erklärt worden, das heißt, die Rate von Analphabeten ist unter fünf Prozent gesunken. Die flächendeckende kostenfreie Gesundheitsversorgung ist wiedereingeführt worden, und es gibt ein Subventionsprogramm für kleine und mittlere Agrarbetriebe. Außerdem wurden beachtliche Erfolge in der Wiederbelebung der landwirtschaftlichen Produktion erzielt. Trotz Wirtschaftskrise wird die Agrarökonomie in diesem Jahr um fünf Prozent wachsen. Aber das Wichtigste ist: Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren hat Nicaragua wieder einen klaren Kurs.

Sie ziehen also ein positives Fazit der bisherigen Amtszeit von Ortega?

In Anbetracht der schwierigen Bedingungen macht die Regierung gute Arbeit. Zum einen sieht sie sich einer oppositionellen Mehrheit im Parlament gegenüber, was die Verabschiedung neuer Reformen erheblich erschwert. Zum zweiten macht die globale Krise, die auch in Nicaragua zu spüren ist, es nicht leichter. Schließlich haben beinahe 20 Jahre Neoliberalismus das Land in eine soziale Katastrophe gestürzt. 27 Prozent der Bevölkerung leiden unter chronischer Unterernährung. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 50 Prozent. Bis vor zwei Jahren starben von tausend Neugeborenen einhundert. Diese Zahl konnte immerhin auf 76 reduziert werden.

Eine der ersten Initiativen der Regierung war das Programm »Hambre Cero« (»Kein Hunger«). Wie schätzen Sie den bisher erreichten Stand ein?

Das Konzept basiert darauf, für Landarbeiter mit kleinem Besitz Bedingungen zu schaffen, die ihr Überleben sichern. Sie bekommen eine Kuh, die gerade gekalbt hat, eine Sau, Geflügel sowie Saatgut für Reis, Bohnen und Mais. Dazu kommt technische Unterstützung und die notwendige Finanzierung, um mit der landwirtschaftlichen Produktion zu beginnen. In den ersten zwei Jahren haben 32000 Familien von dieser Maßnahme profitiert, das bedeutet rund 150000 Menschen.

Bleiben noch diejenigen, die kein Land besitzen. Das sind etwa 20 Prozent derjenigen, die von Landarbeit leben. Für diese Menschen gibt es zur Zeit noch kein spezifisches Programm, das ihnen soziale Rechte und ein Grundeinkommen garantiert.

Die Abschaffung des Rechts auf eine Schwangerschaftsunterbrechung aus therapeutischen Gründen hat zu starken Protesten, besonders von Frauenorganisationen, geführt. Wie interpretieren Sie diese Entscheidung der Regierung?

Die Aufhebung des Gesetzes ist ein klarer Rückschritt. Er wirft das Land mindestens um 100 Jahre zurück. Das Gesetz fiel einem politischen Abkommen zwischen der FSLN, rechten Politikern und der Kirche zum Opfer. Es ist absolut inakzeptabel und unzumutbar, daß heutzutage sowohl Frauen für eine Schwangerschaftsunterbrechung als auch das medizinische Personal, das diese durchführt, belangt werden können. Einschränkend ist jedoch zu sagen, daß das Verbot in der Praxis nicht durchgesetzt wird, da der Regierung der Wille fehlt. In Nicaragua gibt es viele Kliniken, in denen jegliche Art von Schwangerschaftsunterbrechungen mit Wissen der Regierung durchgeführt werden, ohne daß jemand dafür belangt wird.

Interview: Ainara Lertxundi

(Übersetzung: Stefan Natke)

* Aus: junge Welt, 30. Juli 2009


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