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"Wir müssen den Pakt Ortegas mit Alemán brechen"

Héctor Mairena über den Verfall der politischen Kultur in Nicaragua

Héctor Mairena trat 1975 mit 16 Jahren der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN bei und kämpfte als Student gegen das Somoza-Regime. Nach dessen Sturz übernahm er Organisationsaufgaben für die FSLN. Als sich 1995 zahlreiche Mitglieder der FSLN vom autokratischen Führungsstil Daniel Ortegas distanzierten, gehörte Mairena zu den Gründern der Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRN). Heute ist er Vorstandsmitglied. Über Ortegas Bilanz seit seiner Rückkehr an die Macht 2007 sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" Martin Ling.



ND: Arnoldo Alemán, Nicaraguas konservativer Expräsident, mehrfach wegen Korruption verurteilt, wurde Mitte Januar vom Obersten Gerichtshof rehabilitiert und kündete bereits seine Präsidentschaftskandidatur für 2011 an. Was bedeutet das für die politische Kultur Nicaraguas?

Mairena: Das bedeutet, dass Präsident Daniel Ortega die Delikte Alemáns vergeben hat. Alemán hat laut früheren Anklagen über 100 Millionen Dollar aus der Staatskasse hinterzogen. Doch Ortega hat für sein Entgegenkommen etwas erhalten: Die regierende Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) erhält im Parlament den Vorsitz zurück, was nur durch die Stimmen der Abgeordneten der liberalen Partei Arnoldo Alemáns möglich war. Ortega kann nun seine Pläne, die Verfassung zu reformieren, weiterverfolgen. Die Wirkung auf die politische Kultur ist verheerend: Der Fall Alemán zeigt erneut, dass die korrupte politische Klasse des Landes in der Lage ist, aus politischen Gründen schwere Vergehen einfach zu streichen, wenn es ihr opportun erscheint. Wir sind jedoch sicher, dass früher oder später die Gerechtigkeit siegen wird.

In Deutschland gab es die Erwartung, dass mit Ortegas Rückkehr an die Macht wenigstens eine Abkehr von der neoliberalen Politik seit 1990 erfolgen würde. Gab es diesen Politikwechsel nicht?

Den gab es leider nicht. Ortega pflegt zwar einen revolutionären, anti-neoliberalen Diskurs. In der Substanz hat er aber den neoliberalen Kurs beibehalten. Sicher gab es auch Sektoren der nicaraguanischen Gesellschaft, die sich von der Regierung Ortega einen Wandel zum Besseren versprachen. Leider repräsentiert Ortega einen rückwärtsgewandten Kurs, der nichts mehr mit den revolutionären sandinistischen Idealen zu tun hat, die er einst vertreten hat. Er ist ein neuer Millionär, der politisch eine neue, zu wirtschaftlicher Macht gekommene Gruppe repräsentiert.

Ortega hat doch das Programm »Null Hunger« auf den Weg gebracht sowie kostenlose Schulbildung und Gesundheitsversorgung zugesichert. Was ist daraus geworden?

Ja, es gibt in der Tat soziale Programme, die die Regierung für ihre soziale Legitimation durchführt. So gibt es einige Fortschritte beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und zur Bildung. Aber diese Fortschritte sind minimal im Vergleich zur schlechten Gesamtentwicklung: der wachsenden Armut, der steigenden Arbeitslosigkeit und der Wirtschaftspolitik, die dem großen Kapital dient. Diese Sozialprogramme sind das Mindeste was jede Regierung auf der Welt zu ihrer Legitimation machen muss. Mit revolutionärer Umgestaltung der Gesellschaft hat das nichts zu tun.

Trotz dieser Bilanz hat es Ihre Bewegung (MRS) seit ihrer Gründung 1995 nicht geschafft, der FSLN den Rang als linke Volkspartei abzulaufen. Warum nicht?

Wir haben immerhin bei den Parlamentswahlen 2006 erheblich besser abgeschnitten als bei den vorangegangenen Wahlen, in manchen Departamentos zehn Prozent der Stimmen erhalten und sind mit fünf Abgeordneten erstmals im nationalen Parlament vertreten. In den städtischen Zentren stellen wir eine Bedrohung für die Hegemonie Daniel Ortegas und seiner Frau Rosario Murillo dar. Deswegen entzog uns der Oberste Wahlrat im Juni 2008 den Parteistatus, so dass wir nicht an den Kommunalwahlen teilnehmen konnten. Die FSLN ist inzwischen danielistisch und längst nicht mehr sandinistisch. Das ist nicht nur die Meinung der MRS, sondern die vieler regierungsunabhängiger Organisationen oder auch der Frauenbewegung, die die Verschärfung der Abtreibungsregelung nicht verhindern konnte.

Ortega wird ein repressiver Kurs gegen die sozialen Bewegungen vorgeworfen. Mit Recht?

Ja. Die Zivilgesellschaft Nicaraguas hat in den letzten Jahren während der neoliberalen Regierungen der Präsidenten Arnoldo Alemán und Enrique Bolaños partizipative Freiräume erkämpft und Druck auf ökonomische Reformen gemacht. Ein Teil dieses Ausdrucks ist das Erstarken der Nichtregierungsorganisationen und sozialer Bewegungen, die teils sehr kämpferisch sind, zum Beispiel die Frauenbewegung.

Unter Daniel Ortega wurde der Druck auf unabhängige Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen stark verschärft. Viele Aktivisten und Organisationen werden von der Justiz, die von Ortega und Alemán kontrolliert wird, mit fragwürdigen juristischen Klagen überzogen, um sie mundtot zu machen, besonders die Frauenbewegung. Die Regierung Ortega fährt einen autoritären, repressiven Kurs und ist extrem intolerant.

Wie lässt sich denn Ihrer Ansicht nach die Entwickung in Nicaragua zum Besseren ändern?

Wir müssen die autoritäre Politik Daniel Ortegas bremsen und den Pakt Ortegas mit Alemán brechen. Das ist nur auf zwei Wegen möglich: Der eine ist der parlamentarische Widerstand aller verbliebenen demokratischen Kräfte, und der andere ist der außerparlamentarische Widerstand auf der Straße.

Das, was uns besonders besorgt, ist eine neue Entwicklung in den letzten Monaten. Ortega hat paramilitärische Milizen geschaffen, um seine Gegner einzuschüchtern, da er keine totale Kontrolle über Polizei und Militär hat. Das bedeutet Gesetzlosigkeit, und dafür wird die ganze nicaraguanische Gesellschaft zahlen müssen.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2009


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