Boykott brechen
Nicaraguas Sandinisten wollen die Paralysierung der Justiz durch oppositionelle Richter beenden
Von André Scheer *
Einwohner der nicaraguanischen Hauptstadt Managua haben Ende vergangener
Woche vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs (CSJ) für eine
schnellere Behandlung ihrer Anliegen durch die Justiz demonstriert.
»Richter, macht eure Arbeit« und »Verspätete Gerechtigkeit ist keine
Gerechtigkeit« hieß es auf Plakaten. »Wir wollen, daß sie Verfahren
durchführen, daß sie arbeiten, denn dafür bezahlt das Volk sie und das
schulden sie den Nicaraguanern«, sagte eine der Protestierenden der
sandinistischen Zeitschrift El 19.
Hintergrund des seit Monaten schwelenden Konflikts ist der Streit
zwischen der Regierung von Präsident Daniel Ortega und der rechten
Opposition um die Ablösung von Richtern, deren Amtszeit abläuft. Nachdem
die Regierungsgegner im Parlament monatelang die Wieder- oder Neuwahl
von Richtern blockiert hatten, erließ Ortega im Januar ein Dekret,
wonach die jeweiligen Amtsinhaber ihre Funktion weiter ausüben müssen,
bis ihre Nachfolger bestimmt sind. Der Staatschef berief sich dabei auf
Artikel 201, Absatz 2 der nicaraguanischen Verfassung von 1987, wonach
gewählte Beamte im Amt bleiben, solange die Abgeordneten keine
Nachfolger bestimmt haben, und löste damit eine heftige Debatte unter
den Juristen aus. Das sei eine bei der Verfassungsreform 1990
aufgehobene Übergangsbestimmung gewesen, wetterten Oppositionsvertreter.
Tatsächlich taucht der zweite Absatz dieses Artikels in allen später
veröffentlichten Ausgaben der Magna Charta nicht mehr auf. Darauf
angesprochen, sagte Parlamentspräsident René Núñez, das sei ein Fehler
bei der Veröffentlichung gewesen. Es gäbe nirgendwo ein Protokoll über
eine Änderung des zweiten Absatzes dieses Artikels, lediglich der erste
Absatz sei 1990 verändert worden. »Solange der Artikel nicht aufgehoben
wird, ist er gültig und verpflichtet alle Beamten der Wahlbehörden und
der Judikative dazu, solange im Amt zu bleiben, bis ihre Nachfolger
ernannt sind«, erklärte Núñez.
Die der liberalen Opposition nahestehenden Richter erkennen diese
Argumentation jedoch nicht an und haben ihre Arbeit seit Monaten
eingestellt. Lediglich die den Sandinisten verbundenen Rafael Solís und
Armengol Cuadra unterstützen die Rechtsauffassung der Regierung. Die
seit Juni amtierende CSJ-Sprecherin Alba Luz Ramos kündigte nun an, die
Krise im Laufe dieser Woche beenden zu wollen. »Wir hier anwesenden
(sandinistischen Richter) werden das Problem auf jeden Fall lösen, denn
wir sind uns bewußt, daß fast zwei Monate ohne ein einziges Urteil, ohne
eine einzige Gerichtsentscheidung für das Volk zu viel sind«, sagte
Ramos gegenüber den Demonstranten. Dazu werde sie die stellvertretenden
Richter einberufen. Entsprechend der nicaraguanischen Verfassung hatte
das Parlament vor drei Jahren 16 Rechtsanwälte als solche vereidigt,
damit sie eigentlich einspringen können, wenn die eigentlichen Richter
zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen zeitweilig verhindert sind.
Politische Beobachter sind sich einig, daß die juristische Debatte nur
vorgeschoben ist. Ebenso wie bei dem monatelangen Sitzungsboykott durch
die oppositionellen Parlamentsabgeordneten zu Jahresbeginn geht es auch
in diesem Fall ganz offensichtlich darum, die sandinistische Regierung
zu destabilisieren. Trotzdem hat Präsident Ortega gute Chancen, bei den
Wahlen im kommenden Jahr in seinem Amt bestätigt zu werden. Mitte Juli
ergab eine Meinungsumfrage des Instituts Encuestadora, daß sich Ortega
mit 53,9 Prozent der Stimmen durchsetzen würde, wenn sein Gegner der
frühere Staatschef Arnoldo Alemán von der Konstitutionalistischen
Liberalen Partei (PLC) wäre. Auch andere führende Oppositionsvertreter
hätten demnach keine Chance, Ortega zu schlagen.
* Aus: junge Welt, 2. August 2010
Zurück zur Nikaragua-Seite
Zurück zur Homepage