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Sandinisten kontrollieren fast alles

Janett Castillo über Nicaraguas revolutionäres Erbe und die Gegenwart *


Janett Castillo ist seit ihrem 14. Lebensjahr politisch aktiv und hat als junge Frau für die 1979 erfolgreiche sandinistische Revolution gekämpft. Die 51-jährige Feministin ist heute Koordinatorin einer sozialen Organisation und steht der seit 2006 wieder regierenden sandinistische Partei FSLN kritisch gegenüber. Mit ihr sprachen als Mitglieder einer Solidaritätsbrigade Britta Baumann, Paul Brettel und Evelyn Linde.


Was verbinden Sie mit der Sandinistischen Revolution?

Als Schülerin habe ich mich mit 14 Jahren dem revolutionären Kampf gegen die Somoza-Diktatur angeschlossen und in Matagalpa für die Befreiung Nicaraguas gekämpft. Zur Zeit der Revolution 1979 war ich 16 Jahre alt. Nach dem Kampf studierte ich und arbeitete in den politischen Strukturen der Frente Sandinista (Sandinistischen Befreiungsfront). Es ging darum, den Staat zu organisieren und eine revolutionäre Politik umzusetzen.

Welcher Wert wurde der Bildung damals beigemessen?

Ein hoher. 1982/83 ging ich für ein halbes Jahr nach Russland, um an der Universität der Völkerfreundschaft Patrice Lumumba zu studieren. Als ich wiederkam, habe ich fünf Jahre in der Kampfzone um Jinotega die Revolution gegen die Contras verteidigt. Zur Politik der Frente gehörte aber auch, dass ich mein Abitur nachholen sollte, was ich 1989 abschloss. Für mich als junge Frau war es eine schwere, aber schöne Zeit. Ich organisierte die Bauern und Kooperativen und die Vergabe von Landtiteln. Wir haben an die Politik der Frente Sandinista geglaubt, daran, dass wir für die soziale Gerechtigkeit arbeiten und den Armen das geben, was sie nicht hatten.

Gab es ein Schlüsselmoment, das Sie politisiert hat?

Ja, mehrere. Vor allem der Tod vieler meiner Freunde und Compañeros. Vor dem Erfolg der Revolution sind viele gestorben, und sie sind für ein Anliegen gestorben. Für sie möchte ich mit dem Kampf, mit der Revolution fortfahren. Das war und ist sehr wichtig für mich. Nach der Revolution gab es ein weiteres wichtiges Moment: das Kennenlernen der Geschichte des Feminismus und der Frauenrechte. Während der Revolution wurden zwar die Rechte aller thematisiert, aber ohne über die Frauenrechte speziell zu sprechen. Nach meinem Studium zur Agraringenieurin habe ich noch viele Fortbildungen zu Politik, politischer Ökonomie aber auch über Gender und Geschlechterverhältnisse gemacht.

Wie sehen Sie die Revolution aus der Perspektive einer Frau?

Die Revolution war gut für die Partizipation der Frau. Sie hat Gesetze für Frauen gebracht, aber es gibt immer noch viele Schwierigkeiten, die Frauen daran hindern, sich frei und voll entwickeln können. Zum Beispiel bei der Besetzung von hohen Ämtern stehen Frauen oft in der zweiten Reihe. Es muss mehr politische Arbeit erfolgen, Bewusstsein entwickelt werden, um auch innerhalb der Partei die Strukturen den Frauen zu öffnen. Dabei hat doch die Revolution gezeigt, dass Frauen Protagonistinnen und Leiterinnen sein können, denn in der Guerilla gab es viele Kommandantinnen. Auf nationaler Ebene gab es aber nur neun Kommandanten, nie war dort eine Frau. Wir waren auf den unteren Ebenen, aber nie in den obersten Rängen.

Sind Sie noch in der FSLN aktiv?

Ich setzte mich nach wie vor aktiv für die revolutionären Ideen ein. Aber ich bin jetzt nicht mehr in den offiziellen Strukturen tätig. Ich beurteile das Vorgehen der FSLN-Führung sehr kritisch. Deswegen habe ich mich distanziert. Es gibt heute viele Widersprüche. Die Partei übt eine große Kontrolle aus, und wenn du nicht machst, was die Partei sagt, oder mit Präsident Daniel Ortega, der seit 2006 wieder regiert, nicht übereinstimmst, kannst du nicht bei der FSLN sein.

Sie sind seit den 90er Jahren beim Movimiento Comunal Nicaragüuense (MCN) und nun auch Koordinatorin des MCN Matagalpa. Was ist das Movimiento Comunal?

Das Movimiento Comunal ist eine Organisation, die schon vor der Revolution existierte und mit ihr groß wurde. Die Hauptaufgabe besteht darin, Menschen zu organisieren. Das MCN ist eine soziale, kommunitäre Organisation, keine Partei, die mit den Menschen kämpft, um soziale und politische Transformationen anzustoßen. Wir sind demokratisch und solidarisch und fördern Jugendliche und Frauen als wichtige Stützen der Organisation.

Wie sehen Sie die FSLN heute?

Die FSLN ist die größte Partei Nicaraguas. 2006 kam Daniel Ortega mit 38 Prozent zurück an die Macht. Seitdem hat die FSLN zugelegt und konnte sich mittels Wahlen an der Macht halten. Dementsprechend verfolgt sie die Strategie, möglichst viele Wähler zu bekommen. Das heißt, all die Sozialprogramme, die sie geschaffen haben, sind auch dafür da, sich die Macht weiter zu sichern.

Sinnvoll sind Sozialprogramme trotzdem, oder?

Ja, einige Sachen sind revolutionär. Aber wir wollen mehr, denn Nicaragua ist kapitalistisch mit neoliberalen Politiken, mit denen die FSLN nicht brechen will. Um an der Macht zu bleiben, schließt sie Pakte mit den Reichen Nicaraguas und der Weltbank. Die Frente ist nun eine Partei, die sich strategisch an der Macht hält und Kontrolle hat, Kontrolle nicht nur über das Parlament, sondern über alle Gewalten.

Kann man seit der Rückkehr der FSLN durch dem Wahlsieg 2006 andere Bedingungen für die sozialen Bewegungen beobachten?

Ja! Wir haben einen Rückgang der sozialen Kämpfe erfahren, denn die FSLN will alle Strukturen kontrollieren. Die FSLN hat Parallelorganisationen geschaffen. Das sind soziale Organisationen, die aber der Frente zugehörig sind. Sie haben Frauen-, Bauern-, Jungendorganisationen gegründet, die es beim MCM auch gibt. Die FSLN versucht zu verbreiten, dass ihre Gruppen soziale Bewegungen sind und unsere nicht. Ich bin Militante (revolutionäre Aktivistin – d. Red.) und will mich nicht mit denen streiten. Fakt ist: Andere Organisationen verzeichnen Rückgänge. Die FSLN hat es geschafft, fast alles zu kontrollieren – fast alles.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 25. Februar 2014


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