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"Sinn Féin's Fokus ist die Abschaffung des paramilitärischen und religiös-rassistischen Polizeiapparats"

Doch DUP-Chef Ian Paisley ist zu keinerlei Zugeständnissen bereit - St. Andrews-Abkommen wieder in Gefahr

Die Gespräche der führenden nordirischen Parteien mit der irischen und der britischen Regierung in Schottland in St. Andrews Mitte Oktober waren der Auftakt für intensive Verhandlungen zur Wiedereinsetzung der nordirischen Regionalregierung. Sie mündeten in die St. Andrews Vorschläge der irischen und britischen Regierung. Bis Freitag, den 10. November, hatten die nordirischen Parteien Zeit, auf die Vorschläge zur Wiedereinsetzung der nordirischen Regionalregierung zu antworten.
Ein zentrales, ungelöstes Thema ist nach wie vor die Übergabe der Verantwortung für Polizei und Justiz von London nach Belfast.
Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der hiesigen Tagespresse sowie einen ins Deutsche übersetzten Artikel aus der Irish Republican News.



Countdown in Belfast

Rückkehr zur Selbstverwaltung in Nordirland ist ins Stocken geraten

Von Mattes Standke, London *
In Nordirland begann jetzt der Countdown für die angestrebte endgültige Rückkehr zur Selbstverwaltung, nachdem eine im jüngsten Friedensplan der Regierungen in London und Dublin für vergangenen Freitag (10. Nov.) anberaumte Einigungsfrist ungenutzt verstrichen ist.

Bis Ende der kommenden Woche sollen sich die führenden Vertretern von pro-britischen Protestanten und pro-irischen Katholiken auf einen Regierungschef für die künftige Autonomieverwaltung der britischen Unruheprovinz geeinigt haben. Doch der Friedensprozess in Nordirland droht abermals in eine Sackgasse zu geraten. Angesichts der Weigerung der größten pro-irischen Partei Sinn Féin, die protestantisch-dominierte nordirische Polizei anzuerkennen, lehnt die pro-britische Democratic Unionist Party (DUP) eine Zusammenarbeit trotz auslaufender Frist weiterhin ab. Sinn Féin fordere die Abschaffung »des paramilitärischen und religiös-rassistischen Polizeiapparats«, so Parteichef Gerry Adams. Hier müssten noch offene Fragen mit der britischen Regierung und der DUP zufriedenstellend beantwortet werden.

Bei einem Treffen mit Premierminister Tony Blair hat DUP-Chef Ian Paisley am Wochenende betont, er sei momentan zu keinerlei Zugeständnissen bereit. »Solange Sinn Féin sich nicht eindeutig zu Polizei, Justiz, Recht und Ordnung bekennt, wird es in Nordirland keinen Fortschritt geben«, sagte er in London. Die Anerkennung der Sicherheitskräfte durch Sinn Féin ist ein Kernpunkt des neuen Friedensplans. Im Gegenzug müsste sich der designierte Regierungschef Paisley ab dem 24. November sein Amt mit dem ehemaligen IRA-Kommandeur und Sinn-Féin-Chefunterhändler Martin McGuinness teilen. Danach würden Koalitionsverhandlungen auf Parteiebene folgen. Zwischen DUP und Sinn Féin haben seit über drei Jahrzehnten keine direkten Gespräche stattgefunden. Premierminister Blair und sein irischer Amtskollege Bertie Ahern hatten vergangene Woche erklärt, sie seien bereit, die vollständige Rückkehr zur nordirischen Selbstverwaltung einzuleiten, sollten sich die verfeindeten Parteien bis März 2007 endgültig auf eine Regierungskoalition geeinigt haben. Im Falle eines Scheiterns drohen Großbritannien und Irland mit der dauerhaften britischen Direktverwaltung der Provinz, die London vor vier Jahren übernommen hat.

Als Basis für eine politische Lösung gilt das so genannte St. Andrews-Abkommen, das beide Regierungen den führenden Parteichefs Nordirlands vergangenen Monat in der schottischen Stadt unterbreiteten. Diese haben es akzeptiert. In dem Papier sichert die britische Regierung Sinn Féin zu, im Gegenzug für eine Beendigung des Polizei-Boykotts künftig die Verantwortung für Nordirlands Sicherheits- und Justizwesen an die Regionalminister zu übergeben. Damit würde London einer letzten grundlegenden Forderung der IRA-nahen Sinn Féin im Friedensprozess nachkommen. Gerry Adams kündigte an, das Angebot »gründlich zu prüfen« und einem Parteitag zur Abstimmung vorzulegen. Einen konkreten Termin nannte er allerdings nicht.

Bereits 1998 hatten sich führende pro-britische und pro-irische Parteien nach intensiver Vermittlung Londons und Dublins in einem Friedensabkommen auf eine gemeinsame, gewaltfreie Verwaltung Nordirlands geeinigt. Die erste aus dem Abkommen hervorgegangene nordirische Autonomieregierung aus je zwei pro-britischen und pro-irischen Parteien war 2002 am mangelnden Vertrauen beider Seiten gescheitert. Grund war der zunehmende Protest der Unionisten-Parteien gegen die anhaltende Zusammenarbeit einiger Sinn-Féin-Politiker mit der paramilitärischen Irisch Republikanischen Armee (IRA).

Seit sich die einst gefährlichste Terrororganisation der Region jedoch im Vorjahr nachweislich von ihrem Waffenarsenal getrennt hat, wächst nun offenbar auch unter Paisleys Unionisten der Wille zum politischen Brückenschlag. Einer jüngsten BBC-Umfrage zufolge lehnt nur noch jeder fünfte Unionisten-Wähler eine Zusammenarbeit mit Sinn Féin kategorisch ab. Eine knappe Mehrheit der DUP-Wähler befürwortet demnach eine Neuauflage der Koalition, sofern Sinn Féin den Polizeidienst der Provinz anerkennt. Auf Seiten Sinn Féins ist der Wille zur Machtteilung sogar noch ausgeprägter. Laut Umfrage würden derzeit rund zwei Drittel ihrer Anhänger ein Regierungsbündnis mit den pro-britischen Parteien begrüßen.

* Aus: Neues Deutschland, 14. November 2006


Regierungen setzen den in St. Andrews begonnenen Prozess fort

Irische Republikaner und Nationalisten mussten über 80 Jahre die schlimmste Art von staatlicher Polizei erdulden. Wir sind entschiedene Gegner eines paramilitärischen Polizeiapparats, der konterrevolutionär geführt, durchsetzt von Collusion, (der Zusammenarbeit staatlicher Stellen mit Todesschwadronen), mit einer religiös-rassistischen Grundhaltung, den Status Quo und die Interessen einer Gruppe der Bevölkerung dadurch verteidigt, dass er die andere unterdrückt. Und wir entschuldigen uns nicht für unsere Gegnerschaft.
Sinn Féin Präsident Gerry Adams in einer Rede vor amerikanischen Unterstützern in New York

Die Regierungen in Dublin und London erklärten heute (10. November 2006), dass sie in einem nächsten Schritt die zur Umsetzung der St. Andrew-Vorschläge nötigen Gesetzesentwürfe vorlegen werden, um die Allparteienregierung in Nordirland wiederzubeleben.

In einer gemeinsamen Stellungnahme zu den Antworten der Parteien auf die Vorschläge, sagten Peter Hain, der britische Direktverwalter Nordirlands und Dermot Ahern, der Dubliner Außenminister :

"Nach Beendigung unserer Gespräche in St. Andrews baten wir die Parteien, unsere Vorschläge zu überdenken, mit ihren Mitgliedern den vorgeschlagenen Weg zu diskutieren und ihre Zustimmung bis zum 10. November zu geben.

Die Konsultationen sind nun abgeschlossen und die Regierungen hatten Kontakt mit den Parteien. Die Haltung der Parteien gibt uns die Zuversicht, dass das Abkommen von St. Andrew als Grundlage für eine politische Lösung dienen kann, wenn es entsprechend umgesetzt wird.

Das Abkommen ruht auf zwei Pfeilern, der Unterstützung für eine gemeinsame Allparteienregierung und die politischen Institutionen (die im Karfreitagsabkommen festgelegt wurden) und Unterstützung von Polizei und Gesetz. Die Umsetzung dieser Ziele ist die Priorität der beiden Regierungen und eines jeden Menschen in Nordirland.

Wir werden nun in einem nächsten Schritt die vollständige Umsetzung der St. Andrew-Vorschläge angehen. Die britische Regierung wird die hierfür nötigen Gesetzesentwürfe vorlegen. Es ist noch viel zu tun und die Verantwortung liegt bei allen, sich zu beteiligen. Wir werden aktiv mit den Parteien arbeiten, um das Abkommen umzusetzen und den Weg für eine neue Ära für die Menschen in Nodirland freizumachen."


Letzte Nacht veröffentlichte die DUP eine Erklärung, die den St. Andrews Prozess nicht explizit unterstützt. Nach einem Treffen in Castlereagh am Rande Belfasts, wurde eine Erklärung angenommen, die das Abkommen weder unterstützt noch ablehnt. Einige Tage zuvor hatte Sinn Féin bekanntgegeben, dass die Partei die St. Andrews Vorschläge unterstütze, die von den beiden Regierungen nach intensiven Verhandlungen in Schottland im Oktober vorgelegt worden waren.

Trotzdem warnte die DUP gestern Abend, dass es "ungünstige Implikationen" für den Zeitplan gebe, falls Sinn Féin nicht schnellstmöglich die PSNI Polizei und die [britischen] Gesetze unterstütze. In den Vorschlägen von St. Andrews findet sich keine Zeitvorgabe für die Unterstützung der Polizei durch Sinn Féin oder den Transfer der Macht über Polizei und Justiz von London nach Belfast, zwei zentrale Schlüsselfragen, die noch gelöst werden müssen.

Die DUP erklärte:

"Da Sinn Féin nicht bereit ist, den endgültigen Schritt nach vorn zur Unterstützung der Polizei zu tun, ist auch die DUP nicht verpflichtet, sich im Voraus zu irgendeinem Aspekt einer gemeinsamen Regierung zu verpflichten ..."

Diese Haltung gefährdet den Zeitplan der Regierungen, der die gemeinsame Vereidigung des DUP Vorsitzenden Ian Paisley als Regierungschef und Martin McGuinness von Sinn Féin als stellvertretender Regierungschef für den 24. November vorsieht.

Dieser Zeitpunkt wurde bisher als "absolute und unverrückbare" Deadline beschrieben, nach der ein Plan B zum Zuge kommt. Man geht davon aus, dass Plan B Schritte zu einer gemeinsamen Regierungsverantwortung der beiden Regierungen in den Six Counties (Nordirland) umsetzt.

Gestern abend bestätigte (der Sinn Féin Präsident) Gerry Adams in einer Rede vor amerikanischen Unterstützern in New York, dass Einiges im Umfeld des Themas Polizei noch gelöst werden müsse, bevor er einen Sonderparteitag [Ard Fheis] zur Frage 'Unterstützung der Polizei' einberufen würde:

"Irische Republikaner und Nationalisten mussten über 80 Jahre die schlimmste Art von staatlicher Polizei erdulden. Wir sind entschiedene Gegner eines paramilitärischen Polizeiapparats, der konterrevolutionär geführt, durchsetzt von Collusion, (der Zusammenarbeit staatlicher Stellen mit Todesschwadronen), mit einer religiös-rassistischen Grundhaltung, den Status Quo und die Interessen einer Gruppe der Bevölkerung dadurch verteidigt, dass er die andere unterdrückt. Und wir entschuldigen uns nicht für unsere Gegnerschaft.

Das Karfreitagsabkommen sollte all das ändern, was falsch in dieser nördlichen Ecke (Irlands) war: die Diskriminierung von Katholiken beenden, tiefsitzende Menschenrechts- und Gleichheitsfragen lösen, constitutionelle und institutionelle Themen beandeln und natürlich einen Neubeginn für Polizei und Justiz schaffen.

Das Karfreitagsabkommen stellte fest, dass unsere Gesellschaft einen Neuanfang in der Polizeiarbeit benötigt und definierte Kriterien für eine Zivilpolizei. Das ist die Position, die Sinn Féin unterstützt. ...

Sinn Féin's Fokus ist die Abschaffung des paramilitärischen und religiös-rassistischen Polizeiapparats. Wir sind entschlossen sicherzustellen, dass alle Elemente eines Polizeiapparats (der nordirischen Regionalregierung) verantwortlich sind. ...

"Ich habe klar gemacht, dass ich im Sinn Féin ardchomhairle (Führungsgremium) einen speziellen ardfheis (Sonderparteitag) beantragen werde, sobald die britische Regierung und die DUP die offenen Fragen zum Thema Polizei mit uns zufriedenstellend abgeschlossen haben,"

sagte er.

Quelle: Irish Republican News, 10. November 2006; Übersetzung: Uschi Grandel (Anmerkungen der Übersetzerin in Klammern)
www.info-nordirland.de



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