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Nordirland: Kein Zurück in den Bürgerkrieg

Das Jahr 2000 war aber nicht frei von Rückschlägen

Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 ist der Friedensprozess allenfalls in Trippelschritten vorangekommen. Immerhin muss es schon als Fortschritt betrachtet werden, wenn es im Jahr 2000 keinen Rückfall in die Gewaltspirale vergangener Jahre und Jahrzehnte gegeben hat. Anlässe hierfür waren nämlich vorhanden und brenzlige Situationen konnten meist nur mit großer Mühe bereinigt werden. Eine erste riskante Situation ergab sich im Februar, als David Trimble, der erste Minister der gemeinsamen nordirischen Regierung, die IRA ultimativ aufforderte mit der vereinbarten Abrüstung ihrer Waffenarsenale zu beginnen. Um einem endgültigen Bruch der aus Protestanten und Katholiken zusammengesetzten Verwaltung zuvorzukommen, suspendierte der britische Nordirlandbeauftragte Peter Mandelson am 11. Februar die nordirische Regierung und übernahm wieder die Direktverwaltung über die Provinz. Dennoch konnte dieser Schritt auch als Parteinahme Londons für die Unionisten gewertet werden. Denn als Frist für den Beginn der Entwaffnung der IRA war nicht der Februar, sondern der Mai vorgesehen gewesen und die IRA hatte immer erklärt, diesen Termin einhalten zu wollen. Nach der Suspendierung hatte es den Anschein, als würden die Hardliner unter den Unionisten, insbesondere Trimble-Kontrahent Ian Paisley, die radikalen Oranier und die "Young Unionists" wieder das Heft in die Hand nehmen und den Friedensprozess zurückdrehen. Die IRA ihrerseits erklärte sich nicht mehr an das Entwaffnungsabkommen gebunden. Am 15. Februar kündigte sie die Zusammenarbeit mit der internationalen Abrüstungskommission unter Leitung des kanadischen Ex-Generals John de Chastelain auf. Doch noch rechtzeitig zur offiziellen Frist überraschte die IRA am 6. Mai mit einer Erklärung zur Niederlegung der Waffen. Darin versprach sie einen Prozess zu beginnen, "der die Waffen der IRA vollkommen und auf überprüfbare Weise unbrauchbar machen wird." Zu diesem Zweck werde die IRA den Kontakt zur Unabhängigen Internationalen Entwaffnungskommission wieder aufnehmen und "eine vertrauensbildende Maßnahme" schaffen, die aller Welt beweise, "dass unsere Waffen sicher bleiben". In der Öffentlichkeit wurde dieser Schritt als "historischer Durchbruch" begrüßt und die unabhängige Kommission nahm wenige Tage später schon ihre Inspektionsarbeit auf.

Die Extremisten im Unionistenlager erlitten beim UUP-Parteirat am 26. Mai eine Niederlage: David Trimble holte sich mit knapper Mehrheit das Mandat, wieder in die gemischt-konfessionelle Provinzregierung zurückzukehren. Auch im Oktober und November geriet Trimble innerparteilich unter starken Druck und konnte nur nach erheblichen Zugeständnissen an die Ultras seine Entmachtung verhindern. So verpflichtete er sich, bei Zusammenkünften der gesamtirischen Gremien (nordirische und irische Politiker) die Vertreter von Sinn Fein zu boykottieren, solange es nach Ansicht der Unionisten keine weiteren Fortschritte bei der Entwaffnung der IRA gebe. Zwischenzeitlich hatte auch die britische Königin Elisabeth II. Öl ins Feuer gegossen, als sie im April die nordirische Polizei, die zu 93 Prozent aus Protestanten besteht, mit dem Georgskreuz ausgezeichnet hatte, dem zweithöchsten zivilen Orden Großbritanniens. Sie überreichte die Auszeichnung an einen im Rollstuhl sitzenden Beamten der RUC (Royal Ulster Constabulary), der beide Beine bei einem Anschlag der IRA verloren hatte. Die Ordensverleihung musste von den Katholiken und den gemäßigten Protestanten als Provokation empfunden werden, zumal der RUC gerade wegen ihrer einseitigen Zusammensetzung und Ausrichtung eine umfassende Reform bevorsteht. Für weitere Spannungs- und Belastungsmomente sorgten in der Folge fast ausschließlich die Anhänger der radikalen Unionisten. Im Juni drohte die größte protestantische Miliz, die UFF (Ulster Friedenskämpfer), offen mit der Wiederaufnahme bewaffneter Aktionen. Mitglieder des Oranierordens waren im Juli für zahlreiche Ausschreitungen und Gewalttaten verantwortlich, mit denen sie auf behördliche Auflagen für ihre traditionellen Paraden in Portadown reagierten.

Gleichzeitig eskalierte der Bandenkrieg zwischen rivalisierenden protestantischen Gruppen. Im August wurden dabei mehrere Menschen getötet und zahlreiche verletzt. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand die protestantische Enklave der Shankill Road inmitten des katholischen West-Belfast. Die beiden Bürgerkriegsmilizen Ulster Volunteer Force (UVF) und Ulster Defence Association (UDA), die einst gemeinsam gegen die IRA vorgingen, kämpfen nun gegeneinander um die Führungsrolle unter den protestantischen Bürgerkriegsorganisationen. Wer diesen Krieg gewinnt, gewinnt zugleich die Kontrolle über den einträglichen Drogenhandel und das Wettgeschäft in den protestantischen Gebieten. Ein Teil der Mörder und Attentäter war erst kurz zuvor auf Grund einer Amnestie aus dem Maze-Gefängnis entlassen worden. Die Welle der "innerprotestantischen" Gewalt hielt bis zum Jahresende an.

Der Besuch des scheidenden US-Präsidenten Clinton in der Republik Irland am 12. und in Nordirland am 13. Dezember konnte außer ein paar schönen Gesten und Ansprachen wenig zum Friedens- und Versöhnungsprozess beitragen. Dazu müssten die großen ungelösten Probleme angepackt werden: Eine Polizeireform zum Beispiel, die es der katholischen Bevölkerung ermöglicht, gleichberechtigt in den Ordnungskräften Dienst zu tun, eine Entwaffnung, die nicht nur auf die IRA schielt, sondern die protestantischen Milizen sowie die britischen Streitkräfte und allgegenwärtigen Militäreinrichtungen ebenfalls einbezieht. Nur wenn auf solchen Gebieten Fortschritte erzielt werden, wird der Friedensprozess voran kommen. Ansonsten erhalten nur wieder jene Kräfte Zulauf, die zur Gewalt zurückkehren wollen - die einen, um ihre Privilegien zu verteidigen, die anderen weil sie auf friedlichem Wege keine Chance sehen zu ihrem Recht zu kommen. Im abgelaufenen Jahr hatten die Hardliner im protestantischen Lager und die republikanische Splittertruppe "Real IRA" großen Mitgliederzulauf.

Aus: Friedens-Memorandum 2001, hrsg. vom Bundesausschuss Friedensratschlag, Kassel 2001, S. 44-46.

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