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Ein zweiter Bloody Sunday

Nordirische Staatsanwaltschaft ordnet neue Untersuchung der Todesumstände von elf Zivilisten in Belfast 1971 an

Von Uschi Grandel *

Nur wenige Monate vor einem Massaker an 14 unbewaffneten Zivilisten in der nordirischen Stadt Derry im Januar 1972, das als Bloody Sunday weltweit bekannt wurde, tötete dasselbe britische Fallschirmjägerregiment im Belfaster Stadtviertel Ballymurphy elf Menschen. In beiden Fällen machte ein schneller erster Untersuchungsbericht aus den Tötungen die »legitime Abwehr von Terroristen«.

Mehr als 38 Jahre sollte es dauern, bis die Familien der Bloody-Sunday-Opfer im Juni 2010 den Durchbruch schafften. Der Abschlußbericht zur Untersuchung des Bloody Sunday bestätigte damals, daß die britische Armee ein Massaker unter unbewaffneten Menschen angerichtet hatte. Der britische Premierminister David Cameron entschuldigte sich in einer Rede vor dem britischen Unterhaus, machte aber klar, daß er im Bloody Sunday ein einmaliges bedauernswertes Fehlverhalten von Soldaten sehe.

Die Familien der Opfer des Ballymurphy-Massakers haben nun neue Beweise dafür, daß die Version der britischen Armee auch in ihrem Fall nichts mit der Wahrheit zu tun hat. Über Jahre hinweg hatten sie Augenzeugenberichte gesammelt und rekonstruiert, wie die elf Zivilisten im August 1971 ums Leben kamen: Scharfschützen der britischen Armee schossen aus einer Kaserne heraus auf alles, was sich bewegte, auf einen Anwohner, der Kinder in Sicherheit bringen wollte, den Pfarrer, der ihm zu Hilfe eilte. Eine achtfache Mutter wurde genauso wie ein junger Mann erschossen, den sie retten wollte. Weitere Anwohner, die zu Hilfe kamen, wurden angeschossen, verhaftet, mißhandelt oder ebenfalls ermordet. Am 9. August 1971 hatte die britische Regierung ihre Politik der Internierungen in Nordirland eingeführt und begonnen, nach Geheimdienstlisten Hunderte irischer Aktivisten zu verhaften. Drei Tage später hatte das britische Fallschirmjägerregiment in Ballymurphy elf Menschen getötet.

Mit Hilfe der Familien der Bloody-Sunday-Opfer analysierte die Ballymurphy-Kampagne die Aussagen der Soldaten des betreffenden Regiments vor dem Bloody-Sunday-Untersuchungsrichter. Einige Soldaten gingen dabei auch auf die Vorfälle in Ballymurphy ein. Ihre Aussagen widersprechen der offiziellen Version der britischen Armee.

Die nordirische Staatsanwaltschaft ordnete am Montag deshalb eine neue Untersuchung an. Andrée Murphy, Sprecherin der Belfaster Menschenrechtsorganisation Relatives for Justice, die seit Jahren die Familien unterstützt, begrüßt die Entwicklung. Es sei höchste Zeit, daß die Justiz die erbärmlichen Fehler der ersten Untersuchung berichtige. Für die Familien sei die neue Untersuchung »ein Meilenstein auf dem Weg zu einer unabhängigen, internationalen Untersuchung der Ereignisse«. Die britische Regierung müsse die horrenden Verbrechen zugeben. Es könnte leicht sein, daß sich David Cameron bald zum zweiten Mal für ein Massaker seiner Armee in Nordirland entschuldigen muß.

* Aus: junge Welt, 17. November 2011


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