Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Polizeigewalt in Derry

Vor 45 Jahren eskalierte in Nordirland der Protest für mehr Bürgerrechte

Von Florian Osuch *

Fast 30 Jahre führte die Irisch Republikanische Armee (IRA) einen Guerillakrieg gegen die britische Besatzung. Inzwischen ist mit dem Friedensabkommen von 1998 eine relative Ruhe eingekehrt. Ein Auslöser für die Eskalation war das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Bürgerrechtsbewegung Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) Ende der 1960er Jahre. So am 5. Oktober 1968, als die NICRA in Derry demonstrierte und die berüchtigte britische Polizei Royal Ulster Constabulary (RUC, auch »B-Specials« genannt) brutal gegen die Teilnehmer des Marsches vorging. Die anwesenden Fernsehteams sendeten die Bilder der prügelnden Polizisten um die Welt.

Irische Katholiken bildeten in Nordirland die Minderheit. Mit der Teilung des Landes Anfang der 1920er Jahre und der Gründung des »Irish Free State« (siehe jW vom 1.12.2012) hatte London im Norden einen spätkolonialen Zweiklassenstaat gegründet. Einen »Protestant State for Protestant People«. Iren wurden bei der Vergabe von Jobs und der Zuweisung von Sozialwohnungen diskriminiert. Es gab politische Verfolgungen, Schikanen durch die Polizei und ein eingeschränktes Wahlrecht.

Gegen Diskriminierung

Im Jahr 1945 wurde im britischen Westminster-Parlament das allgemeine Wahlrecht eingeführt, nicht so jedoch in Nordirland. Die unionistischen Eliten wollten der irischen Unterschicht unter keinen Umständen volle Gleichberechtigung gewähren. Stimmbezirke wurden manipuliert, so daß stets eine probritische Mehrheit gesichert war. Zum Beispiel wählten in Derry, der zweitgrößten Stadt Nordirlands, 10000 probritische Unionisten mehr Abgeordnete in den Stadtrat als 20000 irische Nationalisten. Zudem war das Wahlrecht an Haus- oder Grundbesitz gekoppelt. Die britisch-protestantische Mittel- und Oberschicht konnte bei Wahlen mit bis zu zehn Stimmen votieren, die verarmte irisch-katholische Unterschicht mußte teilweise mit nur einer Stimme pro Haushalt auskommen. Daher war eine der Hauptforderungen der NICRA die Gleichberechtigung bei Wahlen.

In dieser Organisation hatten sich Menschen mit verschiedenen politischen und weltanschaulichen Ansichten zusammengeschlossen. Ihre Proteste wurden regelmäßig von der Polizei attackiert. Für den Bürgerrechtsmarsch am 5. Oktober 1968 hatte die NICRA festgelegt, daß bekannte Persönlichkeiten zum Schutz vor Übergriffen an der Spitze der Demonstration laufen sollten. Gerry Adams, Vorsitzender der irischen Linkspartei Sinn Féin, erläuterte diesen Entschluß in seiner Autobiographie so: »Im Falle von Polizeiübergriffen würden deren eingeschlagene Schädel für Schlagzeilen sorgen. Der erste Kopf, auf den eingedroschen wurde, war tatsächlich der eines Parlamentsabgeordneten.« In der anschließenden Auseinandersetzung habe die nord­irische Polizei allerdings »niemanden mehr verschont«.

Als der nordirische Premierminister Terence O’Neill von der Ulster Unionist Party ankündigte, auf einige Forderungen der NICRA einzugehen, verständigte sich deren gemäßigte Führung auf ein Aussetzen der Demonstrationen. Dies paßte den jungen Aktivisten des kämpferischen Flügels in der NICRA jedoch nicht. Sie organisierten weiterhin Aktionen und wurden immer wieder von der RUC verprügelt.

Innerhalb des unionistischen Establishments setzten sich die Hardliner durch, und Terence O’Neill wurde gestürzt. Die Repression gegen die zivilgesellschaftlichen Kräfte ging mit Überfällen gegen die irische Bevölkerungsminderheit einher. Probritische Banden, unter ihnen auch die sogenannte Ulster Volunteer Force (UVF), griffen Häuser an, in denen Katholiken wohnten. Tausende mußten ihre Wohnungen verlassen. In Derry versuchte ein Mob, das irische Viertel Bogside zu stürmen. Die Polizei schritt nicht ein, und die Bewohner verteidigten in der dreitägigen Battle of the Bog­side ihr Leben. Aus dieser Zeit stammt auch das berühmte Wandbild »You are now entering Free Derry«. Eine Welle der Gewalt erfaßte Nordirland. Noch während die Schlacht in Bogside tobte, wurde im Westen Belfasts die von Katholiken bewohnte Bombay Street in Brand gesteckt. Mehrere Menschen wurden bei den Angriffen getötet. Möglich waren diese Angriffe auch deshalb, weil die Irish Republican Army (IRA) zu dieser Zeit am Boden lag und nicht für Sicherheit in den irischen Vierteln sorgen konnte. Der Ruf nach Selbstverteidigung wurde lauter.

Stärkung der IRA

London schickte die britische Armee nach Nordirland, um die katholische Bevölkerung zu schützen. Viele Iren im Norden begrüßten dies; doch bald schon wurden die Soldaten Teil des Repressionsapparates.

Im Dezember 1969 kam es zur Spaltung innerhalb der irisch-republikanischen Bewegung. Eine Minderheit trat für eine effektive – auch bewaffnete – Verteidigung der irischen Bevölkerung ein. Sie schloß sich zur Provisional IRA und wenig später auch zur Provisional Sinn Féin zusammen. Zu den »Provos« von Sinn Féin gehörte damals auch Gerry Adams. Der Mehrheitsflügel von Official IRA/Sinn Féin firmierte später unter dem Name The Workers Party.

Nach der Spaltung begannen die Provos der IRA, Freiwillige zu rekrutieren. Die Provisorische IRA agierte zunächst »ausschließlich als Schutzmacht«, wie Danny Morrison betont, Chefredakteur der republikanischen Wochenzeitung An Phoblacht und in den 1980er Jahren Abgeordneter für Sinn Féin. Die britische Regierung reagierte auf einige Forderungen der NICRA und ließ die Sonderpolizei »B-Special« durch das Ulster Defence Regiment ersetzen.

Wegen der anhaltenden Angriffe und der fortschreitenden Repression erhielten die Provos weiter starken Zustrom. Im Februar 1971 kam es erstmals zu einem schweren Feuergefecht zwischen der IRA und der britischen Armee. Der Staat reagierte erneut mit Härte. Es kam zu Massenverhaftungen und zur Internierung von Hunderten Verdächtigen ohne Gerichtsverfahren. Die IRA war von der Repression nicht betroffen und antwortete mit einer Bombenkampagne gegen Polizei und Militär.

In dieser eskalierenden Situation mobilisierte die NICRA erneut zu einem Marsch in Derry. Die Demonstration am 30. Januar 1972 endete im Blutbad des Bloody Sunday. Britische Fallschirmjäger eröffneten das Feuer auf die unbewaffneten Demonstranten, 14 Personen wurden erschossen, darunter sieben Jugendliche. Der Bloody Sunday brannte sich in das kollektive Gedächtnis der irischen Bevölkerung ein und ließ den Krieg in Nordirland offen ausbrechen.

Die NICRA konnte sich darin nicht behaupten und zerfiel. Einige gingen zur neugegründeten sozialdemokratischen SDLP, andere zur liberalen Alliance Party. Zeitgleich begann der Aufstieg von Sinn Féin. Zunächst konnte sie ihren Stimmenanteil auf zwölf bis 15 Prozent ausbauen. 1983 übernahm Gerry Adams den Vorsitz und führte die Partei in den Friedensprozeß, bis hin zur Selbstentwaffnung der Stadtguerilla. Inzwischen ist Sinn Féin die größte irische Kraft in Nordirland. Ehemalige Angehörige der IRA sind als Ministerinnen und Minister an der Regionalregierung beteiligt.

* Aus: junge Welt, Samstag, 5. Oktober 2013

Kurze Geschichte der nordirischen Bürgerrechtsbewegung NICRA

Die Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) wurde im Januar 1967 in Belfast gegründet und forderte ein Ende der Diskriminierung der irisch-katholischen Bevölkerungsminderheit in Nordirland. Es waren Vertreter liberaler, sozialdemokratischer, kommunistischer, gewerkschaftlicher und irisch-republikanischer Organisationen beteiligt sowie zu Beginn auch Protestanten von probritischen Parteien. Die NICRA stellte fünf Minimalforderungen: 1. Eine Wahlstimme pro Person (»One man one vote«), 2. die Abschaffung diskriminierender Wahlkreismanipulationen, 3. Gesetze gegen Diskriminierung durch die öffentliche Verwaltungen, 4. die Zuweisung von Sozialwohnungen nach einem Punktesystem sowie 5. die Auflösung der Sonderpolizei »B-Specials«.

Sinn-Féin-Chef Gerry Adams charakterisierte die NICRA rückblickend in seiner Autobiographie: »Die Bürgerrechtsbewegung trat für elementare Rechte ein, die in Britannien und Westeuropa als selbstverständlich galten, sie hatte weder die Abschaffung des Staates noch ein vereinigtes Irland gefordert.«

Nach dem Bloody Sunday im Januar 1972 zerfiel die NICRA. Zahlreiche Aktive schlossen sich anderen Gruppierungen an: John Hume war Gründungsmitglied der sozialdemokratischen proirischen SDLP und zwischen 1998 bis 2000 Ministerpräsident von Nordirland. Für seine Bemühungen um Aussöhnung erhielt er, gemeinsam mit David Trimble, 1998 den Friedensnobelpreis. Der zeitweilige Chef der NICRA, Malachy Mc­Gurran, war später Vorsitzender von »Official Sinn Féin«. Auch die bekannte Sozialistin Bernadette Devlin McAliskey war bei der NICRA aktiv.




Zurück zur Nordirland-Seite

Zur Großbritannien-Seite

Zurück zur Homepage