Furcht und Randale in Nordirlands Städten
Der Aufstand der loyalistischen Arbeitslosen
Von Pit Wuhrer *
Seit Anfang Dezember wurden in
Nordirland rund 30 Polizisten durch
Steinwürfe und Brandsätze verletzt –
von einst staatstreuen Protestanten.
Woher rührt deren Rebellion?
Tagelang protestierten pro-britische
Loyalisten gegen eine Entscheidung
des Belfaster Gemeinderats.
Der hatte am 3. Dezember
beschlossen, die britische Flagge
nicht mehr ständig über dem Rathaus
wehen zu lassen, sondern nur
noch an 17 wichtigen Tagen. Über
dem Regierungsgebäude Stormont
wird der Union Jack schließlich
auch nur an besonderen Tagen
gehisst.
Kaum war der Beschluss gefällt,
randalierten vor dem Rathaus
1500 Loyalisten. An den Aktionen,
die auch andere Städte erfassten,
beteiligten sich fast ausschließlich
Bewohner der protestantischen
Armenviertel. Ihre Barrikaden und
Aufmärsche erinnerten an die
Proteste der 80er Jahre, als die
unionistische Mehrheit unter Führung
des Predigers Ian Paisley
noch jede Annäherung an die Gegenseite
– die nordirisch-katholischen
Nationalisten – ablehnte.
Das hat sich seit dem Karfreitagsabkommen
1998 zwar geändert:
Heute gibt es eine gemeinsame
Regionalregierung, in der Paisleys
DUP und die frühere IRA-Partei
Sinn Féin den Ton angeben. Aber
die Angst vor einem vereinigten
Irland ist geblieben. Obwohl sich
die schwer angeschlagene Republik
Irland einen Anschluss des
Nordens gar nicht leisten könnte.
Gerade hat deren Regierung
das sechste Sparbudget in Folge
vorgelegt, um das Haushaltsdefizit
von derzeit 8,2 Prozent auf 7,5
Prozent 2013 zu drücken. Kindergeld
und Leistungen des Gesundheitswesens
werden gekürzt, eine
neue Grundsteuer wird eingeführt.
Kleine Haushalte werden jährlich
um geschätzte 1000 Euro stärker
belastet. Niemand im Süden dürfte
also ein Interesse daran haben,
zusätzliche Kosten zu tragen.
Aber auch die Tatsache, dass
das Friedensabkommen Nordirlands
Verbleib im Vereinigten Königreich
zementiert, hat die loyalistische
Basis im Norden nicht beruhigt.
Klügere Köpfe der protestantischen
Paramilitärs sehen
zwar, dass nicht sie den Krieg verloren
haben (sondern die IRA),
aber ihrer Gefolgschaft haben sie
das bisher nicht vermitteln können.
Zum Teil verfügen sie auch
nicht mehr über den Einfluss, den
sie noch hatten, als ihre Todesschwadronen
den irisch-katholischen
Bevölkerungsteil in Angst
und Schrecken versetzten.
Dass protestantische Arme
wegen Nichtigkeiten wie der Flagge
empört durch die Straßen ziehen,
weist auf die fortdauernde
Spaltung der Gesellschaft hin. Die
Zahl der »Friedensmauern« zwischen
den Gettos beider Seiten
wächst; fast täglich kommt es zu
kleinen oder größeren Konflikten.
Wesentlicher Faktor der Verunsicherung
ist die zunehmende
Armut. Protestantische Dauerarbeitslose
sehen sich als Verlierer
des Friedensprozesses, von dem
vor allem die Mittelschichten profitierten.
In ihren Quartieren liegt
die Erwerbslosigkeit inzwischen
ebenso hoch wie in katholischen
Elendsvierteln: über 50 Prozent.
Sie fühlen sich unerwünscht und
bedrängt – und sind es auch. Denn
die Londoner Regierung demontiert
den Sozialstaat auch in Nordirland.
Wenn die pro-britischen
Protestanten dann noch den Eindruck
haben, die irisch-katholische
Seite könnte die Oberhand gewinnen
und der britische Staat ziehe
sich zurück, kämpfen sie auch gegen
eine Polizei, die jahrzehntelang
auf ihrer Seite stand.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. Dezember 2012
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