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Nordirland: Der endlose Abgang einer Veteranenarmee

Noch nie stand die Sinn-Féin-Führung unter so grossem Druck - von den eigenen Leuten

Von Pit Wuhrer *

In den nächsten Tagen wird sich entscheiden, ob die Führung von Sinn Féin auch noch die allerletzte Kröte schluckt. Denn wie so oft in den vergangenen Jahren hat die britische Regierung einen engen Zeitplan vorgelegt und diesen mit einer Drohung verbunden: Wenn Gerry Adams, Martin McGuinness und die anderen an der Spitze der IRA-Partei nicht bis Ende Januar einen Treueid auf die britischen Sicherheitsorgane ablegen, dann werde es nichts mit der auf Anfang März angesetzten Wahl zur nordirischen Versammlung und nichts mit einer Beteiligung von Sinn Féin an einer gemeinsamen Regierung mit der DUP, der Partei des fundamentalistisch-protestantischen Ian Paisley. Dieses Ultimatum hat der britische Premierminister Tony Blair Ende letzter Woche auf einem Krisengipfel mit der Dubliner Regierung erneut bekräftigt.

Adams und McGuinness haben im Prinzip nichts gegen einen Schwur auf das von London kontrollierte Polizei- und Justizsystem einzuwenden. Im Grundsatz seien sie dazu bereit, sagten sie nach einer Vorstandssitzung vor zwei Wochen. Voraussetzung dafür aber sei, dass die Polizei und der Justizapparat ab Mai 2008 von der Regionalregierung kontrolliert würden. Die DUP - mit ihr muss sich Sinn Féin einigen - lehnt dies jedoch ab. Die probritischen Hardliner sind ganz entschieden dafür, dass die Londoner Regierung und deren Geheimdienste auch künftig über die Sicherheitskräfte in Nordirland verfügen.

Einem grossen Teil der Sinn-Féin-Basis geht jedoch schon der Gedanke, dass ihre Partei die britischen Sicherheitskräfte akzeptieren könnte, viel zu weit. Haben die nicht dreissig Jahre lang einen schmutzigen Krieg gegen uns geführt, Unschuldige erschossen, protestantische Killerkommandos ausgerüstet, ausgebildet und angeleitet? Und sperren sie sich nicht heute noch gegen jede Untersuchung der Verbrechen, die im Namen der Krone begangen wurden (siehe WOZ Nr. 47/06)? So denken viele in der irisch-republikanischen Bewegung und erinnern sich plötzlich an all die Entscheidungen, die ihre Führung traf, ohne sie je zu fragen - von den Geheimgesprächen Anfang der achtziger Jahre bis hin zur einseitigen Abrüstung.

Und so ist nun eine Revolte im Gange, wie sie die Sinn-Féin-Spitze bisher nicht erlebt hat. Überall in Nordirland versammeln sich RepublikanerInnen, ehemalige IRA-Mitglieder und ihre SympathisantInnen, um die neue Situation zu erörtern. Noch nie war die Enttäuschung so gross, noch nie hagelte es so viel Kritik - und das will etwas heissen in einer Gemeinschaft, in der die politische Führung bisher so sakrosankt war wie der liebe Gott in der Kirche. Viele haben die Partei mittlerweile verlassen, darunter auch etliche Abgeordnete im Regionalparlament. Von einer Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes redet dabei allerdings niemand. Der wäre auch kaum denkbar. Die neuen DissidentInnen waren jahrzehntelang der IRA- und Sinn-Féin-Spitze treu ergeben, und im Alter von vierzig oder sechzig Jahren beginnt keineR einen Guerillakrieg.

Sie wechseln auch nicht zu den republikanischen Hardlinern von der Continuity IRA oder der Real IRA (denen treten eher die Jungen bei). Aber sie bereiten Adams und Co. politische Kopfschmerzen. Denn nun reden sie in aller Öffentlichkeit davon, dass dieselben Personen, die jetzt die britischen Sicherheitskräfte akzeptieren wollen, vor nicht gar so langer Zeit (und mit gutem Grund, wie die DissidentInnen sagen) am Kampf gegen die britische Armee und die nordirische Polizei festhielten. Dass die Führung einst den nordirischen Staat für absolut unreformierbar gehalten hatte und dass sie ihn jetzt regieren will. Dass ihnen der IRA-Armeerat (er ist weitgehend identisch mit der Sinn-Féin-Spitze) einst versprochen hatte, man werde niemals die Waffen abgeben, da man die katholische Bevölkerung vor den ProtestantInnen und deren Polizei auch künftig schützen müsse - jetzt aber die Nähe zu Ian Paisley sucht.

Mehrere DissidentInnen haben inzwischen angekündigt, dass sie - sollte es im März doch noch zu einer Wahl kommen - als Unabhängige gegen Sinn Féin antreten werden. Aber vielleicht wird der Partei der nächste Gang nach Canossa, der nächste Kniefall ja auch erspart: Die DUP hat bereits durchblicken lassen, dass ihr ein Treueschwur auf die Sicherheitskräfte als Voraussetzung für Regierungsverhandlungen nicht genügt. Sinn Féin müsse auch versprechen, die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Geheimdienste bei der Aufklärung des «IRA-Terrors» zu unterstützen. Darauf wird selbst ein so wendiger Politiker wie Gerry Adams kaum eingehen können. Denn auch er braucht noch eine Basis.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 11. Januar 2007


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