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Ziviler Ungehorsam in Belfast

Bewohner des Ardoyne-Viertels wollen mit Sitzblockade probritischen Marsch verhindern

Von Florian Osuch *

In Belfast drohen heute (14. Aug.) bei einem Marsch der pro-britischen »Apprentice Boys« durch ein katholisch-irisches Viertel erneut Krawalle.

In Nordirland haben irische Republikaner angekündigt, mit einer Sitzblockade den geplanten Marsch einer britisch-protestantischen Bruderschaft zu verhindern. Die sogenannten Apprentice Boys wollen am Sonnabend gleich zweimal durch den Stadtteil Ardoyne in Belfast marschieren.

Die staatliche Paradenkommission hat den Umzug unter Auflagen genehmigt. Mitte Juli kam es in dem mehrheitlich von katholischen Iren bewohnten Viertel zu mehrtätigen Ausschreitungen, nachdem der probritische Oranierorden Ardoyne passiert hatte.

Die Anwohnerinitiative »Greater Ardoyne Residents Collective« (CARC) plant Sitzblockaden auf der Route der Marschierer. »Wir werden uns erneut friedlich und in würdevoller Weise der Parade entgegenstellen, so wie wir es am 12. Juli bereits getan haben«, heißt es in einer Erklärung. Noch während die Polizei die Blockade räumte, kam es damals zu heftigen Ausschreitungen mit irisch-republikanischen Jugendlichen. Mit Knüppeln, Wasserwerfer und den umstrittenen Plastikgeschossen gingen die Sicherheitskräfte gegen die mit Steinen und Brandsätzen werfenden Protestierer vor. In den zwei folgenden Nächten kam es erneut zu Krawallen.

Ähnliche Szenen sind auch für die kommende Nacht zu befürchten, falls die Polizei den Marsch der »Apprentice Boys« gegen den Willen der Anwohner von Ardoyne durchsetzt. Die CARC-Initiative rief »alle dazu auf, von nah und fern zu kommen und sich mit uns Schulter an Schulter im friedlichen Protest der sektiererischen Parade entgegenzustellen.« CARC machte jedoch deutlich, dass man Gewalt ablehnt. Ausschreitungen führten nur dazu, dass der Fokus nicht mehr auf den Märschen liege, sondern einzig auf der Gewalt.

Ein Bewohner Ardoynes beschrieb ND den Ablauf des Marsches. So findet die eigentliche Parade der »Apprentice Boys« in Derry statt, zu der die Männer des Traditionsvereins morgens aufbrechen und abends zurückkehren. »Sie fahren jedoch nicht etwa an ihrem Vereinsheim ab, sondern an einer zwei Kilometer entfernten Kirche. Dazu müssen sie durch unser Viertel marschieren – das ist reine Provokation.« Allerdings gibt es Auflagen. So darf eine umstrittene Kapelle nicht teilnehmen, da sie auf Bannern den Mörder eines irischen Bürgers aus Ardoyne glorifizierte. Die »Shankill Star Band« erinnert traditionell an Brian Robinson, Mitglied der paramilitärischen Gruppierung »Ulster Volunteer Force« (UVF). Robinson tötete 1989 einen 40-jährigen; wenige Minuten nach dem Mord wurde er selbst getötet – von einer Zivilstreife der britischen Armee.

Die Bewohner von Ardoyne und ihre Initiative CARC werden von zahlreichen kleinen proirischen Parteien und linken Gruppierungen unterstützt. Gerry Kelly, ehemaliger IRA-Kämpfer und heute wichtige Figur in der Führungsebene von Sinn Féin, sagte: »Die Parade sollte nicht stattfinden. Die Anwohner von Ardoyne wollen sie hier nicht.« Auch wenn die Linkspartei die Entscheidung der Paradenkommission kritisiert, eine aktive Teilnahme an der Sitzblockade lehnt sie ab. Wie bisher wird sich Sinn Féin aber am Protest mit Plakaten am Straßenrand beteiligen.

Die angekündigten Proteste sind auch deshalb so brisant, weil es zuletzt zu zahlreichen Anschlägen gegen Sicherheitskräfte kam. So zündeten vermutlich irisch-republikanische Splittergruppen eine Autobombe vor einer Polizeikaserne in Derry. Auch drei Angehörige von Sicherheitskräften wurden Ziel von Anschlägen. Derweil sollen Vertreter der britischen und der irischen Regierung Geheimgespräche mit radikalen Republikanern geführt haben. Allerdings wurden entsprechende Äußerungen des Sinn-Féin-Politikers Martin McGuinness, stellvertretender Chef der Belfaster Regionalregierung, in Dublin und London dementiert.

* Aus: Neues Deutschland, 14. August 2010


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