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Nordirischer Friedensprozess weit zurückgeworfen

Nach der Wahl zum Regionalparlament: Regierungsbildung scheint ausgeschlossen. London regiert weiter in Belfast

Am 27. November 2003 fanden in Nordirland Wahlen zum nordirischen Parlament statt. Die 108 Abgeordneten des Regionalparlaments sind aufgerufen, eine konfessionsübergreifende Regionalregierung zu wählen. Hinter dieser Regierung muss sowohl eine Mehrheit der protestantischen als auch der katholischen Abgeordneten stehen. Seit über einem Jahr ist die nordirische Autonomie außer Kraft gesetzt. Nordirland wird wieder wie früher von London aus verwaltet.

Nach dem guten Abschneiden der militanten Demokratischen Unionisten (DUP) Ian Paisleys und der Republikaner-Partei Sinn Fein unter Gerry Adams bestehen wenig Aussichten auf eine baldige Lösung der verfahrenen Lage in Nordirland. Vor allem die DUP schließt jegliche Zusammenarbeit mit Sinn Fein und der SDLP aus.

Nach dem amtlichen Endergebnis vom 28. November gewann die probritische DUP von Pfarrer Ian Paisley 30 der 108 Mandate im Belfaster Regionalparlament, zehn mehr als bisher. Zweitstärkste Fraktion wurde die gemäßigtere Ulster Unionist Party (UUP) mit 27 Sitzen. Sinn Fein erreichte mit 24 Sitzen sechs mehr als 1998. Die moderate katholische Social Democratic and Labour Party (SDLP) fiel dagegen um sechs Mandate auf 18 ab. Kleinere Parteien kamen auf neun Sitze.

Bereits am Tag der Stimmenauszählung, als sich der Trend bereits ankündigte, besprachen der britische Premier Tony Blair und der irische Regierungschef Bertie Ahern die Wahlergebnisse auf einer Konferenz in Cardiff. Ahern beharrte dabei darauf, dass der Wahlausgang "jedenfalls nicht zu einer Neuverhandlung bestehender Friedensverträge" führen dürfe. Nordirlandminister Paul Murphy hat die Parteien fürs Wochenende zu Gesprächen einbestellt. Politische Beobachter sehen aber wenig Spielraum für Verhandlungen.

Gleichwohl betonte der britische Nordirland-Minister Paul Murphy am Samstag, das so genannte Karfreitagsabkommen von 1998 habe weiterhin Bestand. "Im Moment sagen die Demokratischen Unionisten, dass sie nicht direkt mit Sinn Fein reden wollen, aber mit mir werden sie reden", sagte der Minister. Auf dieser Basis seien Kompromisse nicht unmöglich, wie schon die Vergangenheit gezeigt habe. Nach den neuen Mehrheitsverhältnissen stünden der Sinn-Fein-Partei in einer neuen Koalition vier anstatt der bislang zwei Ministerposten zu, außerdem würde sie den stellvertretenden regionalen Regierungschef stellen.

Die wichtigsten Parteien

Um die 108 Sitze bewarben sich insgesamt 256 Kandidaten aus 20 Parteien. Die wichtigsten Partein werden im Folgenden kurz dargestellt (Quelle: Der Standard, Nordirland-Dossier).

Ulster Unionist Party (UUP):
Bei der Wahl 1998 wurden die moderaten Protestanten von David Trimble mit 28 Sitzen im Parlament zur größten politischen Kraft. Die Partei war neben der SDLP führend beim Zustandekommen des Karfreitagsabkommens von 1998. Ende 1999 wurde Trimble Chef der seit mehr als einem Jahr suspendierten, ersten überkonfessionellen Allparteienregierung Nordirlands. Seitdem steht die UUP unter wachsendem Druck radikaler protestantischer Bewegungen, die das Abkommen am liebsten einstampfen würden. Sowohl London wie auch Dublin hoffen dennoch auf eine Neuauflage des UUP-Erfolgs.

Democratic Unionist Party (DUP):
Zu Trimbles schärfsten Gegnern im eigenen pro-britischen Lager gehört die DUP unter ihrem Hardliner Ian Paisley. 1998 wurde die DUP mit 20 Mandaten zur drittstärksten Kraft. Obwohl selbst an der Allparteienregierung beteiligt, sperrt sie sich gegen alle Versuche, die Kontrolle Londons über die Provinz zu beschneiden. Mit einer Wahlkampfstrategie, die ganz auf die Enttäuschung der protestantischen Wähler mit dem bisherigen Prozess abzielt, spekulierte sie darauf, der UUP einige Sitze abjagen zu können. Das ist bei der Wahl 2003 mehr als gelungen.

Social Democratic and Labour Party (SDLP):
Die moderate Partei war mit 24 Sitzen bisher die führende politische Kraft im katholisch-nationalistischen Lager und gemeinsam mit der UUP treibende Kraft im Friedensprozess. In jüngster Zeit hatte sie jedoch ebenfalls mit der wachsenden Enttäuschung ihrer Anhänger zu kämpfen.

Sinn Fein:
Die allgemein als "politischer Arm" der paramilitärischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) bezeichnete Partei befindet sich seit einiger Zeit im Aufwind. Hatte die Partei 1998 noch 18 und damit sechs Sitze weniger als die moderate SDLP gewonnen, hoffte sie nun darauf diese zu überholen. Es gelang ihr überzeugend. In der alten Allparteienregierung hatte die Sinn Fein von Gerry Adams zwei Ministerposten inne. Wie die SDLP unterstützt Sinn Fein eine Angliederung der Provinz an Irland.

Alliance Party:
Mit ihrem Programm zur Verständigung von Protestanten und Katholiken und ihren sechs Abgeordneten spielte die kleine Partei von David Ford bisher kaum eine Rolle und wird es auch künftig nicht tun.


Pressestimmen

Die britische Presse hat den Sieg der radikalen Protestantenpartei Democratic Unionist Party (DUP) bei der Regionalwahl in Nordirland als mögliches Ende des Friedensprozesses in der Unruheprovinz gewertet. Nordirland stehe "am Rande eines Albtraums", schrieb die Londoner Boulevardzeitung "Daily Mirror" am 29. November 2003. Hoffnungen auf Bewegung im Friedensprozess seien nun "im freien Fall". Der konservative "Daily Telegraph" kommentierte, das Karfreitagsabkommen habe fünf Jahre nach seiner Unterzeichnung "die Endstation erreicht". Das Abkommen habe die verfeindeten Lager auf sich selbst zurückgeworfen und Fundamentalismus gefördert. Laut "The Times" bekam das Abkommen "einen Dämpfer".

Der Wiener Standard sieht den Friedensprozess in Nordirland um Jahre zurückgeworfen:

Nordirlands Wähler haben gesprochen: Fünf Jahre lang haben sie mit wachsender Ungeduld zugeschaut, wie langwierige Kompromisse geschlossen und saubere Hände schmutzig wurden. Jetzt haben sie die Geduld verloren und Zuflucht in simplen Schlachtrufen gesucht.
Pfarrer Ian Paisley spielt seit bald 40 Jahren die Rolle des Geistes, der stets verneint. Er und seine rabiate Protestantenpartei haben nie etwas Konstruktives geleistet. Nach dieser Wahl steht Paisley an seinem Lebensabend triumphierend an der Spitze der größten Partei Nordirlands. Hinter ihm stehen fähige Politiker, die dereinst den Ausgleich mit der katholischen Bevölkerungsminderheit suchen werden, aber vorläufig herrscht Eiszeit. Die gemäßigte Protestantenpartei des ehemaligen Chefministers David Trimble hat die Feuerprobe nur scheinbar schadlos überstanden, denn in ihrer neuen Fraktion sitzen ein halbes Dutzend Leute, die mehr mit Paisleys absoluten Heilsbotschaften anfangen können als mit Trimbles vorsichtiger Taktik.
Mit wem sollen die Repräsentanten der katholisch-irischen Minderheit künftig verhandeln?
Auch in ihrem Inneren fanden dramatische Verschiebungen statt. Die geduldige Bannerträgerin des friedlichen Ausgleichs, die moderate SDLP, hat den Generationenwechsel an ihrer Spitze schlecht überstanden. Die aggressive und professionell verbreitete Botschaft der IRA-nahen Sinn-Féin-Partei erwies sich als unwiderstehlich. Inzwischen ist Sinn Féin die zweitgrößte Partei Nordirlands(...)
Der Standard, 29.11.2003

Der Kommentator der Frankfurter Rundschau, der langjährige Korrespondent aus Belfast, Peter Nonnenmacher, spricht von einer "Polarisierung in Belfast", die wenig Hoffnung auf die Wiederaufnahme des Friedesnprozesses lässt.

(...) Nordirlands Wähler haben "den Friedensprozess" der Provinz in dieser Woche in eine fatale Sackgasse manövriert.
(...) Ian Paisley, Ulsters notorischer Katholikenhasser aus Zeiten protestantischer Hegemonie, fühlt sich in seiner Position totaler Ablehnung der Republikaner-Partei Sinn Fein bestärkt. David Trimble, eher kompromisswilliger Unionisten-Führer, ist in der eigenen Partei unter Druck - und schon zum Rücktritt aufgefordert worden. Erschwert wird die Lage durch das gute Abschneiden Sinn Feins: Mit Ex-IRA-Leuten die höchsten Regierungsposten zu teilen, fällt den Protestanten noch schwerer als schon die bisherige Zusammenarbeit mit den moderaten Katholiken.
Polarisierung und drohende Unbeweglichkeit in Belfast sind das Ergebnis dieser Wahlen, das London Kopfzerbrechen bereitet. Wenn Blair gehofft hat, mit Hilfe des Urnengangs die nordirische Administration wieder in Gang zu bekommen und insgesamt "den Friedensprozess" zu beleben, sieht er sich getäuscht. An eine baldige Rückkehr zu etwas wie politischer Normalität ist in der Provinz nicht zu denken. Schwierige neue Verhandlungen stehen allen Seiten bevor - und nicht einmal Optimisten sehen im Augenblick viel Hoffnung am Horizont.
Frankfurter Rundschau, 29.11.2003

Ähnlich sieht es auch der Kommentator der Süddeutschen zeitung, Stefan Klein. Der Frieden sei "abgewählt" worden und der Friedensprozess insgesamt an einem toten Punkt angekommen. Im Kommentar heißt es u.a.:

(...) Jedenfalls steht fest, dass es bei Nordirlands Protestanten, die etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellen, keine politische Mehrheit mehr gibt für den Friedensprozess in seiner jetzigen Form. Dessen Symbolfigur war David Trimble, der gegen große Widerstände in seiner eigenen Partei, der "Ulster Unionist Party" (UUP), und trotz einer Serie von Krisen das Experiment der Machtteilung zwischen Protestanten und Katholiken zu seiner Sache gemacht hat. Belohnt haben ihn die Wähler dafür nicht. Im Gegenteil: Trimble ist der Verlierer dieser Wahl.
Gewonnen haben dagegen seine alten Rivalen von der "Democratic Unionist Party" (DUP). Das ist die Partei des schrecklichen Pastors Ian Paisley, des ewigen Neinsagers, der das Karfreitagsabkommen als "die Mutter allen Verrats" geschmäht hat und jeden Gedanken an eine Zusammenarbeit mit Sinn Fein, dem politischen Arm der IRA, weit von sich weist. Sinn Fein freilich ist der andere große Gewinner dieser Wahl: Die Partei des Gerry Adams und des Martin McGuinness hat sich wie erwartet als die beherrschende Kraft im katholischen Lager etabliert.
Die Sieger der nordirischen Parlamentswahl heißen damit Feuer und Wasser. Gegensätze, die sich nicht anziehen, sondern ausschließen: Für Sinn Fein ist das Karfreitagsabkommen sakrosankt, für die DUP ist es Teufelszeug. Und doch sind das die beiden Parteien, die jetzt aufeinander zugehen und zusammenarbeiten müssten, wenn es eine Chance geben soll auf Bildung einer neuen Provinzregierung. Sinn Fein würde es zumindest versuchen, Paisley würde es noch nicht mal erwägen.
Was das bedeutet, nennt man im Englischen deadlock – Stillstand, toter Punkt.
(...) Einziger Trost, und das ist kein kleiner: Mit einer Rückkehr zu den troubles der Vergangenheit, zu Gewalt und Blutvergießen, rechnet keiner.
Süddeutsche Zeitung, 29.11.2003


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