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"In Nordirland beginnt neues Kapitel des Widerstands"

Republikaner werden nach wie vor diskriminiert, in den Wohnvierteln baut sich Gegenwehr auf. Ein Gespräch mit John McCathy


John McCathy ist Aktivist in der nord­irischen Unabhängigkeitsbewegung "32 County Sovereignty Movement" (www.32csm.info )



Die nordirische Polizei hat seit einiger Zeit die Verantwortung für die innere Sicherheit vom britischen Militär übernommen. Seitdem wird oft von einem Erfolg der »Friedensbemühungen« gesprochen – deckt sich das mit der Realität?

Dieser Anschein der Normalität ist von der britischen Regierung gewollt. Nach wie vor gibt es allerdings eine britische Besatzung des Landes – bei uns sind mehr Soldaten stationiert als im Irak. Nordirland ist offiziell Teil von Großbritannien. Jetzt patrouilliert zwar nicht mehr die britische Armee in unseren Städten – aber ihr Ersatz, die »nordirische« Polizei, wird genauso wenig akzeptiert, da sie ja im Auftrag der Besatzer für »Ruhe und Ordnung« sorgen soll. In einigen Gegenden haben die Bewohner schon angefangen, Polizisten aus ihren Vierteln zu werfen, sie trauen sich nur noch schwerbewaffnet in Hochburgen von Republikanern.

In letzter Zeit kommt es verstärkt zu Protesten gegen die Besatzungsmacht. Was sind die Hintergründe?

Tatsächlich gibt es eine neue Dynamik in der Republikanischen Bewegung. Die Situation der lohnabhängigen Klasse in Nordirland ist miserabel. Es gibt keine nennenswerte irische Wirtschaft, statt dessen sind die britischen Verwaltungs- und Repressionsorgane und US-amerikanische Rüstungsfirmen die Hauptarbeitgeber. Die Armut mit all ihren Konsequenzen wie Kriminalität, Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit ist Folge dieser Wirtschaftspolitik, die darauf ausgerichtet ist, die irischen Ressourcen und Arbeiter auszubeuten. Irische Republikaner werden außerdem zum Beispiel bei der Vergabe von Jobs massiv diskriminiert – wer aus einer Republikaner-Hochburg kommt, hat kaum Chancen auf Einstellung.

Die Menschen sind frustriert und haben auch den Glauben an die alten Führer und die Sinn Féin verloren. Demzufolge gibt es zahlreiche Ansätze, sich in den Wohnvierteln zu organisieren und dort die sozialen Probleme anzugehen. Immer mehr Menschen durchschauen das Karfreitags-Abkommen und den gesamten »Friedensprozeß« als eine Taktik der Briten nach dem Motto »teile und herrsche«.

Von den bürgerlichen Medien wird der »Nordirlandkonflikt« oft als sinnloses Hauen und Stechen zwischen Katholiken und Protestanten dargestellt …

In der irischen Gesellschaft gibt es zweifellos Spannungen zwischen den Konfessionen. Der Kampf gegen imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung ist aber ganz bestimmt nicht religiöser Natur. Im Gegenteil – es muß das Ziel sein, die religiösen Konflikte zu beenden. Das wird aber erst gelingen, wenn die britische Besatzung zu Ende ist. Sie ist es nämlich, die diesen Konflikt verursacht und ihn immer als Mittel zur Spaltung unserer Klasse benutzt hat.

Mit der Zunahme der Proteste hat auch die Repression auf der Straße und in den Knästen zugenommen. Wie ist die Situation der politischen Gefangenen?

Sehr schlecht. Sie sind überwiegend voneinander isoliert, 23 Stunden pro Tag in ihren Einzelzellen eingesperrt. Wenn überhaupt, bekommen sie einmal am Tag etwas zu essen. Ein erster, kleiner Erfolg des Widerstands in und außerhalb der Knäste ist, dass die »strip-searches« gestoppt wurden. Bisher sind die Wärter oft mehrmals pro Tag in die Zellen gekommen, um willkürliche Durchsuchungen durchzuführen, bei denen die Gefangenen meist geschlagen wurden. Außerdem kommt es immer wieder zu Verhaftungen und Verfahren nach den Anti-Terror-Gesetzen.

Welche Perspektive sehen Sie für den Widerstand gegen die Besatzung?

Meiner Einschätzung nach beginnt gerade ein neues Kapitel der Widerstandsgeschichte in Irland. Gerade die Jugendlichen, die keine Perspektive haben, sind ein wichtiger Teil davon. Unser Ziel ist die nationale Souveränität – und zwar im eigentlichen Sinne des Wortes. Es geht nicht darum, einfach nur die Flagge der herrschenden Klasse auszutauschen, sondern darum, die Gesellschaft als Ganzes zu ändern und den Reichtum als den Reichtum der irischen Bevölkerung zu organisieren. Für mich ist die einzige Perspektive, nach der Befreiung vom britischen Imperialismus den Sozialismus aufzubauen.

Interview: Mario Castello

* Aus: junge Welt, 20. August 2010


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