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Ein logischer Schritt, aber nicht das Ende

Nordirland: Wer nur auf die IRA blickt, verkennt die Ursache der Probleme

Von Pit Wuhrer*

Und hier die neuesten Meldungen aus Nordirland: Montag, 1. August, 4 Uhr morgens: Vor dem Haus einer fünfköpfigen Familie in Ballymena, Grafschaft Antrim, explodiert eine Bombe, die Haustüre wird beschädigt, das Ehepaar und die Kinder werden nicht verletzt. Die Polizei vermutet hinter dem Attentat eine Fehde zwischen pro-britischen loyalistischen Paramilitärs. Montag, 1. August, 1.30 Uhr morgens: Brandanschlag auf eine Wohnung in Ahoghill, Grafschaft Antrim, eine katholische Frau und ihr Sohn entkommen mit knapper Not. Die Polizei spricht von einem «sektiererischen Mordversuch». Am Tag zuvor war in Nordbelfast eine sechsköpfige Familie mit Rauchvergiftung und Brandverletzungen ins lokale Spital eingeliefert worden. Sonntag, 31. Juli, spätabends: Polizisten durchsuchen ein protestantisch-loyalistisches Viertel in Nordbelfast, die Beamten werden angegriffen, vier verletzt. Ebenfalls Sonntag, ebenfalls Nordbelfast: Ein 38-jähriger Mann wird mit Schussverletzungen ins Krankenhaus gebracht. Die Polizei geht von einer Bestrafungsaktion der loyalistisch-protestantischen Untergrundorganisation Ulster Defence Association (UDA) aus. Samstag, 30. Juli, abends: Stephen Paul, Mitglied der Loyalist Volunteer Force (LVF) und in den Drogenhandel verwickelt, wird vor seinem Haus erschossen. Er ist das dritte Todesopfer einer Fehde zwischen der Ulster Volunteer Force (UVF) und der LVF, die vor ein paar Wochen begann und mehrere Dutzend Familien zum Verlassen ihres Viertels zwang.

So also sieht heute die Lage in Nordirland aus. Vor wenigen Tagen erst hat die irisch-republikanische Armee IRA den bewaffneten Kampf für eingestellt erklärt. «Der Krieg ist vorbei», verkündete Mitte letzter Woche die Organisation, die zuletzt von 1969 bis 1997 mit Waffen und Bomben gegen die Briten ankämpfte. Aber die Gewalt ist immer noch allgegenwärtig, begangen zumeist von jenen Kräften, die damals schon, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, den Konflikt überhaupt erst losgetreten hatten - mit Zuspruch jenes Predigers, der heute der unbestrittene Führer der nordirischen ProtestantInnen ist: Ian Paisley. Von ihm und seinem Ziel einer protestantischen Vorherrschaft sehen sich die protestantischen Paramilitärs der UDA, der UVF und der LVF übrigens weiterhin gedeckt: Sie denken nicht daran, dem Beispiel der IRA zu folgen und ihre Waffen abzugeben.

Der Schritt der IRA war nur logisch: Bereits vor zwanzig Jahren hatte die IRA-Führung um Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams Verhandlungen mit der britischen Regierung um eine politische Lösung des Konflikt begonnen (wer damals auf wen zuging, ist heute noch umstritten) und war vor zehn Jahren auf einen politischen Kurs eingeschwenkt. Sie gab einen Grossteil ihrer Ziele auf, richtete sich in einem reformierten Nordirland ein und beteiligte sich an der Regierung der Provinz. Spätestens mit dem Karfreitagsabkommen 1998 gab es kein Zurück mehr in den bewaffneten Konflikt. Die irisch-nationalistische Bevölkerung, die den IRA-Freiwilligen über Jahrzehnte hinweg Unterschlupf bot, hätte sich kaum weiter für eine Truppe eingesetzt, die sich im Kern mit dem Gegner geeinigt hatte - zumal eine Friedensdividende lockte.

Ausserdem waren viele der alten Kämpfer in die Jahre gekommen: Fünfzigjährige ziehen nicht in einen Krieg, und zwar auch dann nicht, wenn - wie in Nordirland - die heutigen sozialen Verhältnisse jenen gleichen, die sie als Zwanzigjährige zu den Waffen haben greifen lassen. In vielen irisch-katholischen Vierteln ist die Armut gross, die Diskriminierung am Arbeitsmarkt besteht weiterhin, die erhofften Jobs sind ausgeblieben, die Polizei wird weiterhin von London und der protestantischen Obrigkeit dominiert, der Gegensatz und der Hass zwischen den beiden Gemeinschaften ist grösser als je zuvor. Die Probleme sind also nicht verschwunden - zumal Ian Paisley von der IRA und der irisch-katholischen Minderheit weiterhin die Unterwerfung verlangt und mit ihr den Verzicht auf eine Wiedervereinigung Irlands.

Paisley und seine Kumpane reagierten daher auch äusserst skeptisch auf das euphorische Statement von Tony Blair, der die IRA-Erklärung an seine Fahne heftete und auch zwischen dem «IRA-Terrorismus» und der Bedrohung durch islamistische Attentäter unterschied: «Ich glaube nicht, dass die IRA jemals versucht hätte, 3000 Menschen zu töten», sagte er im Hinblick auf den 11. September 2001 und die Anschläge in London.

Dieser Vergleich ist nicht nur von der Grössendimension her abwegig (die IRA hatte vor ihren Attentaten jeweils eine Warnung herausgegeben und zumeist nur vorher deklarierte «legitime Ziele» angegriffen, auch bei ihren Anschlägen in London), aber ein paar Lektionen für heute könnte die britische Regierung aus dem Nordirlandkrieg durchaus lernen. Was hatte sie nicht alles gegen die irisch-katholischen Aufständischen eingesetzt: Sie liess foltern, sperrte jahrelang Verdächtige ohne Gerichtsurteil ein, verschärfte die ohnehin bestehenden Ausnahmegesetze, installierte Sondergerichte und schickte Elitetruppen auf Shoot-to-kill-Einsätze. Genützt hat ihr das in Nordirland wenig. Erst als sie die berechtigten Klagen über die undemokratischen Verhältnisse wahrnahm, die Defizite korrigierte und mit den «Terroristen» verhandelte, war eine Lösung in Sichtweite. Dazu gehörte auch das Eingeständnis, Fehler gemacht zu haben. Von diesem Eingeständnis ist Tony Blair im Hinblick auf den Irak jedoch noch weit entfernt.

* Aus: Wochenzeitung WOZ (Schweiz), 4. August 2005


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