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Rassismus kehrt zurück

Ein Jahr nach den Anschlägen ist in Norwegen Alltag eingekehrt - und damit auch die Fremdenfeindlichkeit

Von Thomas Hug, Oslo *

Am Sonntag jähren sich zum ersten Mal die Anschläge des rechtsradikalen Norwegers Anders Behring Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya. 76 Menschen starben am 22. Juli 2011. Nach einem Jahr der Aufarbeitung wird Ende August das Urteil gegen Breivik erwartet.

Trotz schlechten Sommerwetters ist Norwegen nahezu »geschlossen«. Alle verbringen ihren Urlaub in Hütten, auf Booten oder in wärmeren Gefilden. Doch am Sonntag wird diese Ferienstimmung unterbrochen: Am 22. Juli jähren sich die Anschläge von Anders Behring Breivik zum ersten Mal. Damals hatte der Massenmörder Norwegen ebenfalls aus der Ferienstimmung gerissen. Mit einer selbstgebauten Bombe tötete er erst acht Menschen in Oslos Regierungsviertel und erschoss anschließend im Sommerlager der Sozialdemokraten auf der Insel Utøya 69 zumeist junge Menschen. In seinem »Manifest« warf Breivik den Sozialdemokraten vor, einer Islamisierung Norwegens Vorschub zu leisten.

Dieser für die meisten Norweger und Norwegerinnen immer noch unfassbaren Tat wird an diesem Wochenende mit verschiedenen Veranstaltungen gedacht. Am Osloer Ratshausplatz wird ein Gedenkkonzert abgehalten, im Regierungsviertel ein Kranz niedergelegt. Gedenkgottesdienste finden in der Osloer Domkirche und in der Kirche von Hole im Bezirk Ringerike statt, wo sich Utøya befindet. Utøya selbst wird am Sonntag von Angehörigen der Opfer besucht werden können. Am Nachmittag organisieren die jungen Sozialdemokraten eine Gedenkveranstaltung, an der Regierungschef Jens Stoltenberg, die dänische sozialdemokratische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt und der Vorsitzende der Jungsozialdemokraten, Eskil Pedersen, Reden halten werden.

Die Aufarbeitung des Attentats geht unterdessen weiter. Am 13. August wird die Untersuchungskommission ihren Schlussbericht veröffentlichen. Die Vorsitzende Alexandra Bech Gjörv verspricht, ungeschminkt und ehrlich zu berichten, was am 22. Juli eigentlich geschah und wie Behörden und Polizei darauf reagierten. Am 24. August schließlich wird das Urteil im Prozess gegen Breivik verlesen. Nach der Verhandlung im Juni war in Norwegen vor allem diskutiert worden, ob die Richter der Staatsanwaltschaft folgen und Breivik zu erzwungener psychiatrischer Behandlung verurteilen werden oder ob sie ihn als zurechnungsfähig erklären und mit Haft bestrafen werden.

In anderen Bereichen ist wieder Alltag eingekehrt. So hatte die sozialdemokratische Arbeiterpartei nach dem Attentat in Meinungsumfragen sehr gute Resultate erreicht, während die rechtspopulistische Forschrittspartei verlor - Breivik war einst aktives Mitglied der Partei gewesen. Das Kräfteverhältnis hat sich inzwischen normalisiert, die Fortschrittspartei ist wieder auf dem Vormarsch und die regierende rot-grüne Koalition wird bei den Parlamentswahlen in gut einem Jahr in der konservativen Partei Höyre einen ernsthaften Gegner haben.

Auch mit Solidarität und Nächstenliebe ist es nicht mehr so weit her. Diesen Sommer hatte sich eine Gruppe von Roma in Oslo niedergelassen. Erst kampierten sie auf der Straße, dann auf dem Areal der Sofienberg-Kirche. Dort weggeschickt, fanden sie schließlich eine provisorische Bleibe in einer Kiesgrube außerhalb Oslos. Die Roma hatten dank der Regelungen des Europäischen Wirtschaftsraumes einreisen können. Doch da die meisten bettelten, löste ihr Au᠆fenthalt in Norwegen eine heftige Diskussion aus. Bald schon wurden sie im Internet und in sozialen Netzwerken beschimpft: Die Roma seien wie die Invasion der Braunschnecken, sie seien wie Kinder, hätten keine Selbsteinsicht und seien nicht sauber. Man werde ihnen gerne zum Selbstmord verhelfen, stand da zu lesen.

Schockiert fragte eine Zeitungskommentatorin, ob man nichts aus dem 22. Juli gelernt habe, wenn - so kurz vor einer Gedenkfeier gegen Hass und Rassismus - solche Hasstiraden möglich seien. Regierungschef Jens Stoltenberg versuchte, das Bild zu korrigieren: Diese Verurteilung der Roma stimme nicht mit den wichtigsten norwegischen Werten überein. »Toleranz, Vielfalt, Demokratie und Offenheit sind die Werte, die in der norwegischen Gesellschaft stark sind. Deshalb ist es so erschreckend, solche Aussagen über die Roma zu lesen«, sagte Stoltenberg dem Sender NRK und forderte alle Norweger auf, auch den Roma mit gebührendem Respekt zu begegnen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 21. Juli 2012

Von den Attentaten zur Verurteilung

22. Juli 2011, 15.22 Uhr: Vor dem Osloer Regierungshochhaus explodiert eine Bombe in einem Lieferwagen. Acht Menschen sterben. Der Täter Anders Behring Breivik fährt in einem Mietwagen zur knapp 40 Kilometer entfernten Fjordinsel Utøya. Kurz vorher hat er per E-Mail ein 1500 Seiten umfassendes »Manifest« versendet.

ca. 17.00 Uhr: Breivik setzt als Polizist verkleidet zum Ferienlager der sozialdemokratischen Jugend auf Utøya über. Danach macht er mit zwei mitgebrachten Handfeuerwaffen Jagd auf die mehr als 500 Teilnehmer.

17.27 Uhr: Zeitpunkt des ersten Notrufs an die norwegische Polizei (laut Behörden). ca. 18.30 Uhr: Die Antiterroreinheit der Polizei nimmt Breivik fest. Das späte Eingreifen gilt als schwerwiegender Fehler.

29. November 2011 und 10. April 2012: Rechtspsychiater kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Im ersten Gutachten wird Breivik für nicht zurechnungsfähig erklärt, in einem zweiten für voll zurechnungsfähig.

16. April bis 21. Juni 2012: Beim zehnwöchigen Gerichtsverfahren verteidigt Breivik seine Anschläge und erklärt: »Ja, ich würde es wieder tun.« Zahlreiche Überlebende und Hinterbliebene sagen aus.

24. August: Das Osloer Gericht wird aller Voraussicht nach sein Urteil verkünden. Breivik drohen bei Schuldfähigkeit bis zu 21 Jahre Haft mit möglicher anschließender Sicherheitsverwahrung oder, bei Schuldunfähigkeit, die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Klinik. (nd/Agenturen)




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