Stavanger ist mehr als sein Öl
Norwegische Stadt zur zweiten europäischen Kulturmetropole gekürt
Von André Anwar, Stavanger *
In diesem Jahr ist neben Liverpool die Ölmetropole Stavanger Kulturhauptstadt Europas. Die
norwegische Stadt ist die letzte in einem Nicht-EU-Staat, die zu dieser Ehre kommt.
Am 12. Januar eröffneten König Harald V. von Norwegen und Königin Sonja die Regentschaft
Stavangers als europäische Kulturhauptstadt 2008. Es soll einiges an Überredungskünsten erfordert
haben, das Königspaar für diese Aufgabe zu gewinnen. Schließlich aber sagte der Hof doch noch
zu. Auch das Budget für das Kulturhauptstadtjahr ist mit 30 Millionen Euro im Vergleich zu dem
anderer Städte, die sich mit diesem Titel schmücken durften, recht niedrig. Und selbst um diese
Summe musste Stavanger im ölreichen Norwegen lange bangen. Denn im Land selbst ist das
Interesse für die eigene Kulturhauptstadt verschwindend gering.
Das etwas verschlafene südnorwegische Stavanger setzt nun vor allem auf ein sehr breites, aber
nicht zu teures Programm. Die Stadt verzichtet bewusst auf Prominenz und Superstars und streut
das Budget auf rund 120 Veranstaltungen. Die Öl- und Gasfördermetropole möchte vor allem
bleibende Kultur schaffen und ihren Ruf als Stadt raubeiniger Ölarbeiter ablegen. Man setzt deshalb
vor allem auf »Bürgerbeteiligung und Innovation«, sagt Pressesprecherin Bente Aae.
Aber auch Ereignisse wie die europäische Blechblasmeisterschaft sind im Kulturjahr 2008 in
Stavanger geplant. Ebenso sind vier weniger bekannte, aber laut Veranstaltern sehr
»zukunftsweisende« Künstlergruppen eingeladen. Sie betreiben über längere Zeiträume Projekte,
unter anderem zur künstlerischen Landschaftsgestaltung. Zudem wird es das ganze Jahr über
zahlreiche Theaterdarbietungen geben, teils von norwegischen Gruppen, teils von internationalen.
Mit seinen 181 280 Einwohnern ist die drittgrößte Stadtregion Norwegens im Vergleich zur
englischen Kulturhauptstadt Liverpool klein. Während letztere vor allem durch die Beatles bereits
weltweit bekannt ist, sind die norwegischen Stadtväter noch immer auf der Suche nach einem
eigenen kulturellen Profil. Wirtschaftlich ist die Stadt durch die Ölförderung allerdings von weitaus
größerer Bedeutung als ihr englisches Pendant.
Kurz vor Weihnachten 1969 hatte ein US-amerikanischer Ölkonzern nach jahrelanger Suche
verkündet, man habe unweit von Stavanger das größte Ölfeld Europas entdeckt – Ekofisk. Diese
Entdeckung führte nicht nur Stavanger, sondern das gesamte bis dahin eher ärmliche Norwegen in
ein von Wohlstand geprägtes Zeitalter. Einst lebten die Bewohner im 1125 gegründeten Stavanger
von Heringsfang, Seehandel und Landwirtschaft auf wenig ertragreichen, von großen Steinen
durchzogenen Böden, ständig geplagt von Kälte und Dunkelheit. Das karge Leben begünstigte einen
stark asketisch geprägten Glauben. Arbeit galt als Lebenssinn, das Vergnügen als Sünde.
Als vor Beginn des 20. Jahrhunderts die Heringsschwärme ausblieben, stellten sich die Bewohner
auf das Konservieren von Fisch und anderen Lebensmitteln um. Dutzende von Dosenfabriken
wurden aus dem Boden gestampft. Heute ist die Stadt freilich nicht mehr so puritanisch geprägt wie
einst. Stavanger ist zum Vergnügungstempel der nahezu ausschließlich männlichen Ölarbeiter auf
Landurlaub geworden.
In Sachen Öl allerdings könnte sich bald etwas ändern. Denn die Quellen nahe Stavanger werden in
ein paar Jahrzehnten versiegen. Die Bohrinseln ziehen dann weiter hinaus ins Meer. Bis dahin muss
sich Stavanger, genauso wie irgendwann ganz Norwegen, eine neue Identität schaffen, eine ohne
Erdöl.
* Aus: Neues Deutschland, 18. Januar 2008
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