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Osttimor – ein "failed state"?

Von Rainer Werning *

Als am 20. Mai 2002 die Flagge des jüngsten Staates in Osttimors Hauptstadt Dili gehisst wurde, herrschte überschwängliche Freude. Unter den Ehrengästen befand sich auch UN-Generalsekretär Kofi Annan. Euphorisch verwies er darauf, dass die Welt noch nie so vereint gewesen sei, einer kleinen Nation als Taufpate beizustehen. Nur vier Jahre später erfüllt Osttimor eher die Kriterien eines »failed state«, obgleich dessen Bevölkerung nichts dringlicher verdient hätte, als endlich in Sicherheit und Frieden eine menschenwürdige Existenz zu fristen. Was lief schief?

Erstens: Für den »Westen« wurden gedeihliche Beziehungen zu Osttimors großem Nachbarn Indonesien stets höher bewertet als „Sorgen um das politische Schicksal (der portugiesischen Exkolonie; RW) Osttimors, eines winzigen, verarmten, nach Unabhängigkeit strebenden Territoriums von 800.000 Einwohnern.“[1] Das bewies nicht nur die Haltung der »westlichen Wertegemeinschaft«, als sich General Suharto 1965 blutig an die Macht putschte und er eine Dekade später seine Soldateska in Osttimor ungestraft einmarschieren und dort bis 1999 ein Viertel der Bevölkerung massakrieren ließ. Das belegte überdies das viel zu späte Intervenieren seitens der UN im Sommer 1999, als die Osttimorer in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit von Indonesien optierten. Wenige Wochen zuvor hatte der Kommandeur der indonesischen Invasionstruppen in Dili, Oberst Tono Suratman, ebenfalls ungestraft gewarnt: „Wenn die Pro-Unabhängigkeitskräfte siegen, wird alles zerstört werden. Das wird schlimmer als vor 23 Jahren“,[2] als Indonesien Osttimor völkerrechtswidrig annektierte. Der Oberst behielt Recht. Tausende Westtimorer wurden von in den USA ausgebildeten Kopassus-Spezialeinheiten mit Wissen und Duldung des kommandierenden Generals Wiranto in Osttimor eingesetzt, um dort eine Politik der verbrannten Erde zu exekutieren.[3]

Zweitens: Die Verantwortlichen all dieser Massaker wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Der Drahtzieher der Verbrechen, der über drei Dekaden im Westen als ausgesprochener Darling geschätzte Ex-General Suharto, genießt heute das Privileg sattsam bekannter »Despoten-Krankheit«; Ärzte attestierten ihm, nicht vernehmungsfähig zu sein, während willige Justizschergen ihn schlichtweg exkulpierten. Der »Westen« überließ Indonesien die eigene »Vergangenheitsbewältigung«. Mit dem Resultat, dass sämtliche Hauptschuldigen der Osttimor-Massaker in Jakarta freigesprochen wurden oder ihre Haftstrafen nie antreten mussten. Die in Osttimor selbst eingesetzten Gerichte führten indes 70 Angeklagte einer Haftstrafe zu – allerdings nur eigene Staatsbürger.

Drittens: Wenngleich Osttimor mit Staatspräsident Xanana Gusmão und Außen- sowie Verteidigungsminister José Ramos Horta über integre Persönlichkeiten verfügt, die lange im Untergrund für die Freiheit gekämpft hatten, lehnte ausgerechnet dieses Tandem eine Wiederaufnahme der Strafverfolgung von Tätern strikt ab und betrieb in putativem Gehorsam die unbedingte »Normalität nachbarschaftlicher Beziehungen zu Jakarta«. Wer die Kultur der Amnesie und Straffreiheit predigt, darf sich nicht wundern, wenn das Gefühl für Recht, Sicherheit und persönliche Unversehrtheit in einer Kultur von Rechtlosigkeit und Rache verschüttet geht. Ein Desaster, das zuvörderst dem allseits gescholtenen Regierungschef und Hardliner der regierenden Fretilin-Partei, Mari Alkatiri, pässlich ist. Eine heillos zerstrittene Regierung und aus den Fugen geratene militärische und zivile Apparate des Staates haben es einem Mob (ob intern von Oppositionellen oder extern bzw. von indonesischen Militärs gelenkt, sei dahin gestellt) ermöglicht, zu brandschatzen und mindestens die Hälfte der etwa 180.000 Einwohner Dilis zu Flüchtlingen zu degradieren.

Viertens: Kolonialismus und Unterdrückung haben nicht nur einen hohen Blutzoll gefordert. So konnten kaum eigene Kompetenzen reifen, um ein Schul-, Berufs- und Gesundheitswesen aufzubauen sowie eine halbwegs funktionsfähige Verwaltung zu schaffen. Mangelnde Devisen, eine rückständig gehaltene Ökonomie und ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von nur 370 US-Dollar verdammten den jungen Staat dazu, anfangs vollständig auf ausländische Hilfe angewiesen zu sein. Die Crux: Tagtäglich erlebte die Bevölkerung Dilis einen Lebensstil ausländischer »Experten«, der sie gnadenlos mit der eigenen Wertlosigkeit konfrontierte.

Fünftens: Der frühere UN-Sondergesandte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, erklärte kürzlich, im Falle Osttimors hätten die UN „in zu kurzer Zeit zuviel erreichen wollen. Die Osttimorer haben uns selbst angefleht, sie länger zu unterstützen. Aber der Sicherheitsrat hatte es wie immer eilig. Sobald CNN keine dramatischen Bilder mehr zeigt, sagen die Mitgliedstaaten: Lasst uns heimgehen.“4 Doch durch die Hintertür kehrten sie zurück – diesmal in Gestalt von mittlerweile 2.300 ausländischen Soldaten unter Führung Australiens.

Anmerkungen
  1. Elizabeth Becker & Philip Shenon (1999): With Other Goals in Indonesia, U.S. Moves Gently on East Timor, in: New York Times, 9. September.
  2. Australian Financial Review, 14. August 1999, mit Bezug auf ein Radio-Interview.
  3. Sydney Morning Herald, 8. Juli 1999 & Benedict Anderson (1999): The Promise of Nationalism, in: New Left Review 235, Mai/Juni.
  4. „Wir verteilen unser Geld ohne Sinn und Verstand“, Lakhdar Brahimi im Interview mit der FAZ, 6. Juni 2006.
* Dr. Rainer Werning, Politologe & Publizist, befasst sich seit 1970 intensiv mit der Region Südost- und Ostasien.


Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 3/2006, S. 67

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