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Osttimor ist ein weiteres Beispiel für erfolglose UN-Militäreinsätze

DIE LINKE muss weiterhin konsequent gegen die Beteiligung der Bundeswehr an Artikel-VII-Einsätzen stimmen

Von Inge Höger und Paul Grasse *

Die Legitimation von UN-Einsätzen ist kein ganz leichtes Geschäft. Worum es dabei im Kern geht, ist klar: Die LINKE soll dazu gebracht werden, bewaffneten Kampfeinsätzen und Kriegen nicht weiter unisono die Zustimmung zu verweigern. Dazu bohrt man dünne Bretter und bemüht zuerst UN-Einsätze, weil die UN verglichen mit anderen Organisationen ein großes Vertrauen genießt und – ungerechtfertigt – den meisten Linken nicht als Agentur einer imperialen Macht gilt. Wie wir sehen werden, ist es für die „Vordenker“ bewaffneter UN-Einsätze wichtig, für ihre Argumentation Beispiele zu bemühen, die möglichst wenig aktuell sind, relativ unbekannt (Zypern)oder eben moralisch sehr umstritten (Kongo), wobei immer mit „Verantwortung“ und „man könne doch nicht zusehen“ argumentiert wird. In Regierungskreisen heißt das dann „Responsibility to Protect“ und ist ein alter Knochen, jedenfalls nicht besonders innovativ, aber eben ein legitimatorisches Erfolgsmodell. Worüber „Vordenker“ genau so wenig gerne sprechen wie die Regierung, sind die Vorgeschichte und der Kontext solcher Einsätze.

Stefan Liebich zum Beispiel kann sich nach einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung nicht damit abfinden, die Bundeswehr kategorisch nicht in den Krieg ziehen zu lassen, nicht mal in einen von der UN nach Kapitel VII sanktionierten, und zwar 'Weil Ursachen, Verlauf und Lösungsmöglichkeiten von Konflikten sich unterscheiden“, wie Liebich fachkundig erläutert. Denn, so fragt Liebich, sei es „etwa falsch, dass UN-Blauhelme mit Waffen die Ermordung und Vertreibung der Bevölkerung in Osttimor beendet haben“?[1]

Haben denn UN-Blauhelme die Ermordung und Vertreibung der osttimoresischen Bevölkerung tatsächlich gestoppt?

Indonesien, Timor und die Finanzkrise

Indonesiens berüchtigter Präsident Suharto putschte sich in 1965 an die Macht und begann sofort mit der Vernichtung der größten kommunistischen Partei Asiens. Die Unterstützung der NATO und der USA waren ihm dabei sicher. Zehn Jahre später kam im November 1975 für das angrenzende Timor die Unabhängigkeit von portugiesischer Kolonialherrschaft in greifbare Nähe, als Portugal nach der Nelkenrevolution alle Kolonien freigab. Suharto witterte seine Chance und überfiel eine knappe Woche später das kleine Land, um es, wiederum mit Unterstützung vor allem der USA und Australiens, davon abzuhalten, ein „pazifisches Kuba“ zu werden. Suharto wurde all die Jahre auch maßgeblich von der Bundesrepublik mit Waffenlieferungen unterstützt. Er zog einen eisernen Vorhang um Osttimor und missbrauchte die Zivilbevölkerung. Über 1/3 der Timoresen wurden ermordet. Dennoch haben sich die späteren „Befreier“ in der UN nie dafür interessiert. Natürlich gab es Resolutionen, aber es gab auch, zumindest von Australien, die Anerkennung der Annexion Timors. Der timoresische Widerstand wurde immer wieder in Kampagnen unter massiven Todesopfern und brutaler Gewalt von den indonesischen Besatzern niedergeschlagen.

Nicht nur die Armee war dafür zuständig, Ost-Timor unter der Knute zu halten. Dazu baute das indonesische Militär zusätzlich Terrormilizen auf, schulte sie und rüstete sie aus. Sie wurden später als „pro-indonesische Kräfte“ bezeichnet, um das Bild eines Bürgerkrieges zu vermitteln. Vergleichbar ist Großbritannien in Irland vorgegangen: Ansiedeln von Besatzern, Ausbildung von Milizen, schon haben wir einen Bürgerkrieg und müssen zu Friedenserhaltung intervenieren…Tatsächlich behauptete Indonesien, dass es sich bei diesen Söldnern um eine osttimoresische Bürgerkriegspartei handele. Diese Lüge kaufte die UN dem indonesischen Regime ab. Die australischen Geheimdienste wussten, dass die „Milizen“ keineswegs eine irgendwie unabhängige Guerilla war. Journalisten, die darüber berichteten, wurden in Australien mit Prozessen wegen „Geheimnisverrats“ überzogen.

Die Bundesrepublik war in den Jahrzehnten der Militärdiktatur ein zuverlässiger Partner der Regierung Suharto und bedachte das Land mit Waffenlieferungen in enormem Ausmaß. U-Boote, Patrouillenboote, Hubschrauberlizenzen, Polizei- und Militärausrüstung, Hilfe beim Aufbau einer Anti-Terror-Einheit, Korvetten und auch Panzer waren Teil der Lieferungen. Aus NVA-Beständen wurden 39 Kriegsschiffe geliefert. Die rot-grüne Bundesregierung erklärte noch im Februar 1999 auf Anfrage der PDS explizit, dass sie die Fortsetzung dieser erfolgreichen Kooperation nicht von einem Verhandlungserfolg des Osttimor-Beauftragten der UN, Jamsheed Marker, in Sachen Autonomiebestrebungen abhängig machen würde[2]. Die gleiche Regierung gab wieder auf Anfrage der PDS zu, dass auch Boote aus deutschen Beständen während der Auseinandersetzungen im Zuge des Referendums vor der timoresischen Küste unterwegs waren[3]. Ihre Aufgabe war wahrscheinlich die Absicherung der Öl- und Gasfelder Osttimors.

Die UN hatte zum Thema Osttimor wiederholt Resolutionen erlassen, das letzte Mal allerdings 1982, also 17 Jahre bevor dann angeblich plötzlich kein anderes Mittel als eine Blauhelmtruppe mehr verfügbar war.

Die Krise und die Unabhängigkeit

1997 wurden die sogenannten Tigerstaaten, darunter Indonesien, von der Asienkrise ergriffen. Indonesien verlor zwei Drittel seines Bruttosozialprodukts. Es wurde komplett von IWF-Geldern abhängig, der nicht etwa forderte, Indonesien solle seine Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen, im Gegenteil: Noch im März 1999 erhöhte der IWF seine Kredithilfe auf dann 47 Mrd. $.

Durch die wirtschaftliche Destabilisierung verschlechterten sich die Lebensbedingungen derart, dass überall in Indonesien Aufstände ausbrachen. Der jahrzehntelang regierende Diktator Suharto trat zurück. Sein Nachfolger wurde Habibie, der ebenfalls aus der Staatspartei Golkar kam.

Der indonesische Übergangs-Präsident Habibie begann, als schon klar war, dass er nicht im Amt bleiben würde, in Übereinstimmung mit der ehemaligen Kolonialmacht Portugal ein Referendum über den Autonomiestatus Osttimors zu organisieren. Das Referendum schlug eine Art Autonomie Osttimors bei „Verbleib im indonesischen Staatsverbund“ vor, wobei alle Gewalten und der Zugriff auf die Rohstoffe in Indonesiens Hand bleiben sollten.

Die UN vereinbarte, das Referendum mit einer Truppe von Wahlbeobachtern zu begleiten. Die Mission UNAMET zur Begleitung des Referendums umfasste insgesamt rund 1500 Leute. Die Vereinbarung schloss außerdem ein, dass die Widerstandsgruppen Osttimors sich in entlegene Gebiete zurückziehen sollten, während der indonesischen Polizei der „Schutz“ des Referendums vor den ebenfalls staatlich gesteuerten Milizen übertragen wurde. Damit legte die UN offenen Auges den Grundstein für die Gewaltausbrüche, Morde und die Zerstörung, die nach dem Referendum beginnen sollten. Im Vertragswerk wurde sogar die Armee zur neutralen Kraft verklärt. Egal wie erfolgreich die dann folgende „Friedensmission“ gewesen sein mag, diese Ansatz ist vergleichbar mit dem Vorgehen von jemandem, der dafür bezahlt wird, Brände zu legen, um dann dafür bezahlt zu werden, sie wieder zu löschen. Der australische Geheimdienst wusste jedenfalls sehr genau, dass die mordenden und randalierenden Milizen vom indonesischen Militär geschützt werden und dass sie kooperieren. Die indonesische Armee hatte das dem Referendum folgende Töten laut Berichten der Zeitung Observer ein Jahr lang geplant.

Die beiden Anführer des timoresischen Widerstands – Jose Ramos-Horta und Xanana Gusmao – kamen den Anweisungen der UN leider nach und befahlen den bewaffneten Widerstandsgruppen, keinen Widerstand zu leisten und sich statt dessen zu „Versöhnungsgesprächen“ mit Milizen und Militär bereit zu finden.

Nach dem Referendum

Schon vorher war klar, dass es nicht im Interesse des Westens und vor allem Australiens war, Osttimor in die Unabhängigkeit zu entlassen. Die Verträge über die Rohstoffe zwischen Indonesien und Australien wären damit wertlos geworden. Australien profitierte direkt von der brutalen Annexion Timors und bereitete sich nicht trotz dessen, sondern deswegen darauf vor, mit „Friedenstruppen“ intervenieren zu können.

Als 80 % der Bevölkerung für die Sezession Osttimors und damit gegen den Inhalt des Referendums stimmten, eskalierten die Milizen ihre Tour der Verwüstung und des Mordens. Das war voraussehbar und angekündigt. Monika Schlicher[4] von Indonesia Watch berichtet, das die Milizen und die Armee, während die Widerstandsgruppen von der UN zur Passivität verpflichtet und die indonesische Armee das Referendum „sichern“ sollte, 70 % der Infrastruktur zerstört worden sind und ein großer Teil der Einwohner vertrieben wurde. Die Milizen kontrollierten die Hauptstadt und führten Personenkontrollen am Flughafen durch. Armee und Milizen zogen gemeinsam plündernd durch die Städte und Dörfer.

Bemerkenswerter Weise wurde die Gewalt von allen möglichen Seiten sofort verurteilt: Die Europäische Kommission sprach für eine internationale Truppe und verhängte (später) gar ein Waffenembargo von satten vier Monaten (die die Exporte der Bundesregierung nicht betrafen) , die rot-grüne Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) fiel in den Chor ein und forderte eine Intervention. Während aber alle die „Gewalt“ verurteilten, als wäre sie ein selbständig handelndes Subjekt, kam kein Mensch darauf, Indonesien direkt verantwortlich zu machen oder gar Sanktionen zu verhängen. Alle spielten mit in dem Spiel „Wie stellen wir sicher, dass ein unabhängiges Osttimor keinen Zugriff auf seine Rohstoffe bekommt, sondern Australien?“

Die UN billigte daraufhin am 15. September 1999 die Entsendung der „Interfet“-Einheiten nach Kapitel VII der UN-Charta. Diese Truppe war keine UN-Truppe, sondern wurde von einer Koalition von Staaten getragen, unter denen die mächtigsten Frankreich und Australien waren. Die Truppen selbst stellte Australien fast allein und hatte sie schon vorher in weiser Voraussicht küstennah stationiert. Die Bundeswehr beteiligte sich mit einem Feldlazarett. Nur 5 Tage später landeten die Truppen in Dili, der Hauptstadt Osttimors. Ihr Erscheinen beeindruckte die mordenden Milizen und indonesischen Soldaten kaum. Die Zerstörung wurde nicht durch die ausländischen Truppen beendet, sondern durch den von der indonesischen Militärführung angeordneten Rückzug der Truppen sowie die Entlassung in die Unabhängigkeit einen Monat später.

Die Bundesregierung gab für den MEDEVAC-Einsatz des Lazaretts und für Evakuationsflüge in zwei Monaten 13,2 Mio DM, gerade die Hälfte hatte sie für die zivile Soforthilfe übrig.

2006: UN-Mission Nr. 3

2006 war die Zeit für eine erneute Intervention der UN gekommen, die von dem australischen Präsidenten John Howard mit Forderungen nach einem „Regime Change“ untermalt wurde. Der Anlass für die diesmalige „Schlichtung“ durch 2000 australische Soldaten war der Aufstand von 600 timoresischen Soldaten, die nach einem Streik für bessere Löhne schlicht gefeuert wurden, wobei die gesamte timoresische Armee 1500 Truppen umfasst. Da die Soldaten sich nicht entwaffnen lassen wollten, wurde der Konflikt bewaffnet ausgetragen. Der Premierminister Ost-Timors Mari Alkatiri wandte sich dennoch strikt gegen eine Intervention von Truppen aus Australien, das für die katastrophale Situation im Land direkt mitverantwortlich war.

Timor heute. Wie man Erfolg definiert.

Heute – über zehn Jahre nach der angeblich erfolgreichen Friedensmission und noch eine UN-Mission später – stellt sich der Erfolg so dar: Ost-Timor hat eines der niedrigsten Bruttosozialprodukte der Welt, halb so viel wie Äthiopien. Mehr als 40 % leben in absoluter Armut. Mehr als die Hälfte der Menschen hat keinen Zugang zu Trinkwasser. Es gab nie irgendwelche Reparationszahlungen, es gab keine Entschuldigungen, und Australien weigert sich nach wie vor, diesem bettelarmen Land an den Profiten zu beteiligen, die Australien aus den Öl- und Gasfeldern vor der timoresischen Küste zieht. Australien hat sich gemeinsam mit der Weltbank geweigert, die heimische Nahrungsmittelproduktion, vor allem Reis, wieder aufzubauen. Die Verwendung von Hilfsgeldern z.B. für den Bau von Getreidesilos wurde verweigert, um Osttimor in völliger Abhängigkeit zu halten.

Was also war die Mission der UN?

Die UN hat in Ost-Timor dafür gesorgt, dass die Ressourcen eines Sezessionsprodukt eines Staatszerfalls nach einer großen ökonomischen Krise nicht in die Hände eines kleinen neuen Staates geraten, der die Einkommen bitter nötig hat, sondern in die Hände des nächstbesten westlichen Landes.

Und was war die Mission Australiens?

Australien hatte die Annexion Osttimors durch Indonesien anerkannt. Die Öl- und Gasvorkommen zwischen Australien und Osttimor hatten die Aufmerksamkeit der Australier auf sich gezogen. 1989 sicherte Indonesien Australien mit der Timor-Gap-Treaty die Zugriffsrechte auf die Bodenschätze zu. Mit einer wirklichen Unabhängigkeit Osttimors wären diese Privilegien jedoch begraben gewesen. Deshalb begannen die Australier in Hinblick auf das Referendum sofort mit einer militärischen Mobilmachung. Neben den Bodenschätzen ging es auch um die endgültige Bewältigung des Vietnam-Traumas: Seit dem Ende des Vietnamkrieges 1975 hatte Australien nie wieder Truppen in Auslandseinsätze geschickt. Bis 1999 eben.

Fassen wir zusammen:

Der Westen hat Jahrzehntelang einen brutalen Diktator mit Wissen, Waffen und Sympathie genährt. Dieser Diktator hat die größte kommunistische Partei der Welt zerschlagen und das besetzte Osttimor zu einem Feld für Experimente an Menschen gemacht. Die UN findet sich nach Jahrzehnten plötzlich bereit, ein Referendum zu organisieren, das voraussehbar zu einer mehrheitlichen Entscheidung für eine Sezession enden wird. Schutzmacht dafür werden die Unterdrücker, die, ganz überraschend, die von ihnen selbst aufgebauten Milizen nicht an die Leine nehmen, sondern sie loslassen gemeinsam mit ihnen einen Zerstörungsfeldzug beginnen. Da plötzlich rufen all die, die den Diktator Suharto bisher bei allen Verbrechen unterstützt haben, nach einer Friedenstruppe, nicht aber nach Sanktionen gegen Indonesien. Praktischerweise hat der engste Verbündete der indonesischen Verbrecher – Australien – nicht nur schon einen Vertrag mit Indonesien über den Raub der Bodenschätze Osttimors, sondern auch schon Truppen bereit gestellt, die die Kontrolle über das Land absichern sollen. Und Australien weigert sich, während die Entwicklung Osttimors verhindert wird und das Land weiter vollkommen von internationalen Almosen abhängig bleibt, auch nur einen Cent der Profite aus den Bodenschätzen abzugeben.

Diesen UN-Einsatz als Argument für Einsätze nach Artikel VII ins Feld zu führen, zeugt entweder von Zynismus oder von Unwissenheit. Der Osttimor-Einsatz verdeutlicht vielmehr, dass es gute Gründe gibt, als LINKE konsequent gegen die Beteiligung der Bundeswehr an Artikel-VII-Einsätzen zu stimmen.

Fußnoten
  1. Brössler, Daniel: „Streiten über Krieg und Frieden“; Süddeutsche Zeitung Nr. 225, 29.September 2010
  2. Bundestags-Drucksache 14/368
  3. Bundestagsdrucksache 14/1938
  4. Schlicher, Monika: „Intervention in Asien: Das Beispiel Osttimor – Konfliktlösung ohne ausreichende Prävention“, in: Hoppe, Thomas: „Schutz der Menschenrechte. Zivile Einmischung und militärische Intervention“, Berlin 2004.
* Quelle: www.antikapitalistische-linke.de

Der Text erschien außerdem - gekürzt - in der "jungen Welt" vom 5. November 2010



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