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Kaschmir: Hauch von Sensation

In den Dauerkonflikt Indien–Pakistan scheint Bewegung zu kommen

Von Hilmar König, Delhi *

Pakistan und Indien scheinen erfolgreich am Lösungsfaden für den Kaschmirdisput, der die Beziehungen zwischen beiden Nachbarn seit 1947 vergiftet und dreimal Anlass zu Kriegen lieferte, zu spinnen. Pakistans Präsident bestätigte den Verzicht der Ansprüche auf Kaschmir, wenn Indien seinen Vorschlägen zustimmt.

Hinter den Kulissen auf der Ebene der sogenannten Track-2-Diplomatie in Beratungen zwischen Kaschmir-Experten hat man in den letzten Monaten offensichtlich emsig gearbeitet. Das »Zwischenergebnis« der Bemühungen deutete Pakistans Präsident General Pervez Musharraf in einem Interview für den indischen Nachrichtensender NDTV an. Er offerierte einen modifizierten 4-Punkte-Vorschlag zur Lösung des Kaschmirkonflikts.

Die wesentlichen Bestandteile der Idee sind: Die Kaschmiren auf beiden Seiten der Grenzkontrolllinie sollen Autonomie und eine Selbstregierung erhalten – »nicht Unabhängigkeit«, wie Musharraf betonte, denn daran sei weder Pakistan noch Indien gelegen. Die Grenzen sollten unverändert bleiben, aber durchlässig. Dieses Element entspricht nahezu völlig indischen Vorstellungen. Das Militär sollte sich aus dem indischen und pakistanischen Teil Kaschmirs zurückziehen. Und für das gesamte Gebiet sollte ein gemeinsamer Verwaltungsmechanismus in Kraft gesetzt werden, an dem die Kaschmiren, Inder und Pakistaner beteiligt sind. In einer früheren Initiative hatte der General lediglich von nicht näher definierter »Selbstverwaltung« gesprochen.

Einen Hauch von Sensation erhielt das Interview durch folgende Bemerkung Musharrafs: Wenn Indien positiv auf diese Vorschläge reagiert, dann würde Islamabad seinen Anspruch auf Kaschmir aufgeben. Beide Seiten müssten von alten, verhärteten Positionen abrücken, zu Kompromissen und zu Lösungsansätzen bereit sein, die außerhalb des »Schubladendenkens« lägen.

Auch wenn bis zur Stunde eine offizielle Antwort Delhis aussteht, besteht doch Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Erstens gab es keine postwendende Zurückweisung, obwohl doch eine wesentliche Grundvoraussetzung Indiens im pakistanischen Vorschlag fehlt – die totale Beendigung der bewaffneten und bislang von Islamabad gesponserten Rebellion im indischen Jammu und Kaschmir. Aber dieser Punkt wird in der indischen Reaktion gewiss dick unterstrichen werden. Dr. Ajai Sahni, der Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Delhi, warnte bereits, man sollte nicht zu enthusiastisch werden. Alles Gerede von Frieden könnte schnell von fortgesetzter Gewalt ertränkt werden.

Zweitens wird die indische Regierung am 12. Dezember über ihren Kaschmir-Unterhändler den Dialog mit der separatistischen All-Partei-Hurriyat-Konferenz wieder aufnehmen. In dieser Allianz scheint sich ein Gesinnungswandel zu vollziehen, der zumindest Kooperation mit Delhi nicht mehr als Tabu enthält. Hurriyat-Chef Mirwaiz Umar Faruk sagte zu Musharrafs Vorschlägen, sie müssten nicht nur mit der indischen Regierung, sondern auch mit allen Parteien im indischen Srinagar und im pakistanischen Muzaffarabad erörtert werden. Das politische Spektrum in Kaschmir nahm die Offerte als eine gute Basis für Vorwärtsbewegung auf. Allerdings bestehen kaschmirische Extremisten in beiden Kaschmirteilen auf Unabhängigkeit. Und überraschend äußerte sich Gulam Nabi Azad, Chefminister von Jammu und Kaschmir aus der Führungsriege der Kongresspartei, eher skeptisch.

Drittens fällt Musharrafs Initiative zusammen mit dem ersten Treffen der von der indischen Regierung gebildeten Arbeitsgruppe zu Kaschmir. Aufgabe des Gremiums ist, mit allen politischen Hauptparteien das verfassungsmäßige Verhältnis zwischen Jammu und Kaschmir und der Zentrale in Delhi zu debattieren. Diese Termindichte und Musharrafs Interview zu diesem Zeitpunkt sind gewiss keine Zufälle.

Wenn Premier Manmohan Singh im Frühjahr nach Pakistan reist, dürfte das Thema Kaschmir ganz oben auf seinem Gesprächsprogramm stehen. Zumindest begleitet ihn die Hoffnung der Bevölkerung Kaschmirs, dass eine Lösung des Problems bis dahin schärfere Konturen angenommen hat.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Dezember 2006


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