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Auskunft verweigert

US-Besatzer Afghanistans schweigen zu Killerangriff auf pakistanisches Dorf. Regierung in Washington will Militärintervention weiter steigern

Von Knut Mellenthin *

In Pakistan hält die Empörung an über den jüngsten Überfall eines US-amerikanischen Spezialkommandos in Südwasiristan, im nordwestlichen Grenzgebiet zu Afghanistan. Nach Aussagen von Augenzeugen waren zwei oder drei US-Hubschrauber Mittwoch nacht (3. September) in dem Dörfchen Musa Neka Ziarat gelandet. Ihnen entstiegen Soldaten, die zuerst ein Ehepaar erschossen, das aus einem der Häuser kam. Anschließend töteten sie alle Bewohner des Hauses: drei Kinder, zwei Frauen und fünf Männer. Dann eröffneten sie das Feuer auf weitere Menschen. Insgesamt wurden 19 oder 20 Menschen Opfer des Überfalls. Zwar hatten US-Kräfte bisher schon zahlreiche Angriffe mit Raketen und unbemannten Flugzeugen gegen Ziele in Pakistan durchgeführt. Dies war jedoch die erste Kommandoaktion, bei der Truppen am Boden agierten.

US-Militärstellen und die »Internationale Schutztruppe« (ISAF) in Afghanistan verweigerten am Donnerstag jede Stellungnahme, dementierten den Angriff jedoch nicht. Die New York Times zitierte anonym drei US-Offiziere, die den Überfall bestätigten. Sie gaben auch zu, daß mindestens ein Kind und mehrere Frauen getötet worden seien, rechtfertigten das jedoch damit, daß die Frauen »Al-Qaida geholfen« hätten.

Beide Häuser des pakistanischen Parlaments verurteilten am Donnerstag (4. September) den Überfall in einer einstimmig angenommenen Resolution als »grobe Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität Pakistans«. Der Angriff sei »inakzeptabel« und müsse mit den USA, der ISAF und der »Weltgemeinschaft« erörtert werden. Auch der amtierende Chef der regierenden Volkspartei, Asif Ali Zardari, der voraussichtlich am Samstag zum Präsidenten Pakistans gewählt werden wird (siehe Spalte), protestierte gegen die »nicht akzeptable Verletzung der territorialen Integrität unseres Landes«. Aktionen dieser Art untergrüben die Anstrengungen der pakistanischen Regierung, »Radikalismus und Extremismus« zu bekämpfen. Dieser Kampf könne nur erfolgreich sein, wenn er »auf dieser Seite der Grenze« ausschließlich von pakistanischen Kräften geführt werde.

Der Gouverneur der Nordwestprovinz, Owais Ahmad Ghani, erklärte: »Das Volk erwartet, daß die Streitkräfte Pakistans aufstehen, um die Souveränität des Landes zu verteidigen und eine gebührende Antwort zu erteilen.« Der Pressesprecher des Geheimdienstes ISI, Generalmajor Athar Abbas, kündigte an: »Wir behalten uns das Recht auf Selbstverteidigung und Vergeltung zum Schutz unserer Bürger und Soldaten gegen Aggression vor.« Zwar klingt auch jede Menge Theaterdonner mit in den Statements pakistanischer Politiker und Dienststellen, die es seit Jahrzehnten gewohnt sind, eng mit den Vereinigten Staaten zu kooperieren. Es zeigt aber zugleich, daß die immer unverschämtere, kaum noch Rücksichten auf ihre »Partner« nehmende US-amerikanische Militärintervention in Pakistan an die Toleranzgrenze herangekommen ist.

Am Donnerstag (4. September) wurden bei einem weiteren Angriff sechs Menschen im Dorf Achar Khel in Nordwasiristan getötet und vier verletzt. In diesem Fall setzten die USA eine Predator-Drohne ein, die eine Hellfire-Rakete abschoß. Die Getöteten sollen Stammesmitglieder und zwei arabische Gäste gewesen sein, die zum Iftar – dem nächtlichen Festmahl während des Fastenmonats Ramadan – zusammengekommen waren. Schon am Sonntag waren durch den Abschuß zweier Hellfire-Raketen acht Menschen in einem anderen Dorf Wasiristans getötet worden.

Stammesführer der Gegend, die als regierungsnah gelten und ihre Krieger für den Kampf gegen die »Taliban« rekrutieren lassen, hatten nach diesem Angriff scharf gegen die Untätigkeit der pakistanischen Regierung protestiert und ihr »Verrat« vorgeworfen.

Tatsächlich kommt die Ausweitung und Steigerung der US-Militärschläge gegen Pakistan zu einem Zeitpunkt, wo die Regierung in Islamabad erhebliche Erfolge bei der Spaltung der Bevölkerung in den sogenannten Stammesgebieten des Nordwestens verkündet. So soll es beispielsweise gelungen sein, Verträge mit den Stammeschefs im Gebiet des Khyber-Passes abzuschließen, durch das ein großer Teil des Nachschubs für US-Truppen und ISAF in Afghanistan transportiert wird. Den Berichten zufolge sollen die dortigen Stämme den Schutz des Nachschubs und die Bekämpfung von örtlichen Rebellengruppen übernehmen.

Das wirft Fragen nach dem Zweck auf, den die US-Regierung mit der Steigerung der Angriffe gegen pakistanisches Gebiet verfolgt. Daß diese einerseits militärisch ineffektiv sind – selbst wenn sie einzelne »Taliban«-Führer treffen würden – und gleichzeitig politisch extrem kontraproduktiv, ist offensichtlich. In erster Linie schwächen und demontieren die US-Angriffe die Regierung, die im Februar aus freien Wahlen hervorgegangen war, nachdem das Land zuvor seit 1999 unter einem autokratischen Militärregime gestanden hatte.

In Pakistan wird weithin davon ausgegangen, daß vielleicht sogar die Regierung, zumindest aber die Armeeführung, insgeheim mit den Militärschlägen Washingtons einverstanden sei. In der vergangenen Woche hatte auf einem Flugzeugträger im Indischen Ozean ein Geheimtreffen zwischen dem Vorsitzenden des US-amerikanischen Generalstabs, Admiral Mike Mullen, und dem pakistanischen Armeechef Parves Kajani stattgefunden, bei dem es um dieses Thema gegangen sein soll. Der New York Times vom 4. September zufolge sollen Kommandoaktionen US-amerikanischer Spezialeinheiten in Pakistan künftig erheblich ausgeweitet werden, gemäß einem Geheimplan, über den US-Verteidigungsminister Robert Gates schon seit Monaten mit Präsident George W. Bush diskutiert habe.

* Aus: junge Welt, 6. September 2008


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